Vierte Corona-Welle - Debatte über Impfpflicht nimmt Fahrt auf
Ungeimpfte Corona-Patienten füllen die Intensivstationen, immer neue Infektionen kommen dazu, Kontaktbeschränkungen werden ausgeweitet: Die pandemische Lage spitzt sich wieder zu, und die Rufe nach einer Impfpflicht werden lauter.
Die politische Debatte über eine Einführung der Impfpflicht nimmt immer weiter Fahrt auf, der Druck auf Ungeimpfte wächst, während die Zahl der Coronainfektionen und Patienten auf Intensivstationen kontinuierlich steigt. In Berlin und Brandenburg gelten seit Montag erweiterte Zugangsbeschränkungen, die 2G-Regel wurde auf weitere Bereiche des öffentlichen Lebens ausgedehnt. Gleichzeitig werden Zweifel laut, ob die Zugangsbeschränkungen reichen, um die vierte Corona-Welle zu brechen.
Neuköllns Bürgermeister fordert allgemeine Impfpflicht
Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel (SPD), hat sich nun für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Angesichts der aktuellen Corona-Zahlen sei das die konsequenteste Lösung, sagte Hikel am Montag rbb 88.8. Andere Ansätze, etwa die 2G-Regel, würden sich mit einer Impfpflicht erübrigen. Denn die Funktion der 2G-Regel sei es, mehr Menschen zur Impfung zu bewegen.
Sicher gebe es Widerstände gegen eine allgemeine Impfpflicht, räumte Hikel ein. Man sehe aber auch, wie die gesellschaftliche Stimmung sich bei diesem Thema ändere, so der SPD-Politiker. Weitere Aufklärung über die Impfung sei das Mindeste. Das müsse mit einer Impfpflicht kombiniert werden - mindestens für bestimmte Berufsgruppen, so Hikel.
Die sich verschärfende Corona-Lage ist am Dienstag auch das wichtigste Thema im Berliner Senat. Neue Beschlüsse sind aber zunächst nicht zu erwarten.
Ethikrat-Mitglied: Allgemeine Impfpflicht möglich
Der Berliner Theologe und Vertreter des Nationalen Ethikrats, Andreas Lob-Hüdepohl, hält es für möglich, dass in Deutschland eine allgemeine Impfpflicht eingeführt wird. Diese sei ein hartes Instrument, sagte Lob-Hüdepohl am Montag in der rbb-Abendschau, damit werde in die Freiheitsrechte eingegriffen. Deswegen müssten zunächst mildere Maßnahmen ergriffen werden. Lob-Hüdepohl plädierte in diesem Zusammenhang für eine bereichsspezifische Impfpflicht. Es müsse zunächst geprüft werden, ob nicht schon durch diese Maßnahme die besonders vulnerablen Gruppen geschützt werden können - etwa die Bewohner von Pflegeeinrichtungen.
Vielleicht werde man aber nicht mehr um eine allgemeine Impfpflicht herumkommen. Als "ultima ratio" sei das denkbar, so Lob-Hüdepohl.
Amtsarzt fordert: Keine Ungeimpften in der Medizin
Dem widersprach der Amtsarzt von Berlin-Reinickendorf, Patrik Larscheid: Eine allgemeine Impfpflicht sei kontraproduktiv und werde in der Wissenschaft auch nicht diskutiert. Er sprach sich allerdings dafür aus, dass Ungeimpfte in bestimmten Bereichen nicht arbeiten dürfen. Das betreffe vor allem den gesamten Medizinbereich, sagte Larscheid am Montag im rbb-Fernsehen. Er könne nicht verstehen, dass vulnerable Gruppen darauf verzichten müssten, gesund zu werden, nur damit gesunde Menschen frei wählen können, ob sie sich gegen Corona impfen lassen oder nicht.
Larscheid betonte, dass er keine Impfpflicht für medizinisches Personal fordere. Er sei aber dafür, dass in der derzeitigen Corona-Lage Ungeimpfte dort nicht eingesetzt werden, wo medizinisch gearbeitet wird.
Mögliche Ampel-Koalitionäre wollen keine branchenspezifische Impfpflicht
SPD, Grüne und FDP im Bund haben sich bei ihren Koalitionsverhandlungen bislang nicht auf eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen verständigt. Das stellten Vertreterinnen und Vertreter der drei Parteien am Montag in Berlin klar. Das bedeutet aber offensichtlich nicht, dass eine solche Vorschrift vom Tisch ist.
Fakt sei, dass dies "kein Gegenstand des gegenwärtigen Gesetzgebungsverfahrens ist", sagte die SPD-Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar. "Wir stellen hier keine einzelnen Berufsgruppen an den Pranger", sagte sie weiter. Sofern es Impfpflichten gebe, sollten diese "einrichtungsspezifisch und nicht berufsgruppenspezifisch" geregelt werden. Dazu solle es am Montagabend ein Berichterstattergespräch der Ampel-Parteien geben.
Einrichtungsspezifisch heißt, dass eine Impfpflicht etwa für alle Menschen gelten würde, die in einem Pflegeheim oder Krankenhaus arbeiten, unabhängig von deren Beruf. Eine Impfpflicht sei "schon ein sehr schwerwiegender Eingriff", gab Dittmar zu bedenken. "Das macht man nicht im Hauruck-Verfahren". Auch fehlten noch Daten zum Impfstatus etwa in Krankenhäusern.
Scholz für Impfpflicht-Debatte bei bestimmten Berufsgruppen
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz befürwortet eine Debatte über eine Corona-Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Beschäftigte in Pflegeheimen. "Ich finde es richtig, dass wir jetzt eine Diskussion darüber begonnen haben, ob man das machen soll", sagte der geschäftsführende Vizekanzler am Montagabend beim Wirtschaftsgipfel der "Süddeutschen Zeitung". Allein darüber zu sprechen, sei schon eine deutliche Aussage - SPD, Grüne und FDP hätten diese Debatte bewusst geöffnet.
Scholz sagte zugleich, eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sei nur in einem Konsens möglich, "dass viele mitmachen wollen". "Wenn der erreicht ist, fände ich das gut", sagte er. Eine solche Entscheidung könne auch kurzfristig anstehen.
Ampel besser Pläne nach, Wissenschaft warnt
Nach viel Kritik hatten SPD, Grüne und FDP ihre Corona-Pläne nachgebessert. Ausgangs- oder Reisebeschränkungen sowie generelle Schließungen von Schulen, Läden oder Gaststätten sollen nach dem Auslaufen der epidemischen Lage am 25. November nicht mehr möglich sein. Scholz versprach, alle "notwendigen Entscheidungen" würden getroffen. Geplant ist auch 3G im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Nur noch Menschen mit Impf-, Genesenen- oder Testnachweis dürften dann mitfahren.
Entscheidungen sollen an diesem Donnerstag fallen. Dann wollen SPD, Grüne und FDP das veränderte Infektionsschutzgesetz im Bundestag beschließen. Bund und Länder wollen zudem in einem Spitzentreffen einen gemeinsamen Kurs festlegen. Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier mahnte verschärfte Maßnahmen an.
Wissenschaft zweifelt an 2G und 3G
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dämpften derweil in einer Bundestagsanhörung die Erwartungen an die geplanten Maßnahmen. "Das, was derzeit geplant ist, nur 2G, 3G im öffentlichen Bereich, das wird nicht reichen, um die Fallzahlen runterzubringen", sagte die Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann, denn die meisten Kontakte spielten sich im Privaten ab, und durch Schulen und Arbeitsplatz gebe es viele Verbindungen zwischen Geimpften und Ungeimpften.
Der Virologe Christian Drosten sagte vor den Abgeordneten, in der aktuellen "Hochinzidenz-Zeit" verhindere man mit 3G in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht, dass Geimpfte, die unerkannt infiziert seien, Menschen ohne Impfung ansteckten. In stabilen Sozialgruppen, etwa am Arbeitsplatz, könne die 3G-Regel jedoch noch etwas ausrichten.
Sendung: Abendschau, 15.11.2021, 19:30 Uhr