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Audio: rbb24 Abendschau | 30.06.2022 | Ute Bathel/Olaf Sundermeyer | Quelle: dpa-Symbolbild/Hauke-Christian Dittrich

Millionenbetrug bei Corona-Tests

"Wir könnten problemlos mehr abrechnen"

Nach Schätzungen von Ermittlern haben Betrüger in Berlin mit falschen Abrechnungen für Corona-Tests mindestens 30 Millionen Euro erbeutet. Mangelnde Kontrollen der Aufsichtsbehörden ließen Tür und Tor für Betrüger offen. Von Ute Barthel und Olaf Sundermeyer

Im Testzentrum in Französisch-Buchholz ist in diesen Tagen wenig Betrieb. Dennoch kommen regelmäßig Anwohner, die einen Corona-Schnelltest machen lassen wollen. Laut Betreiber Philippe Gouverneur bewege sich die Zahl der täglichen Testungen im niedrigen dreistelligen Bereich. "Wir haben jetzt aktuell eine Testkabine am Laufen", berichtet er. "Wir könnten aber auch sagen, dass wir jetzt mit drei arbeiten. Also wir könnten problemlos mehr abrechnen."

Der Betrug bei der Abrechnung von Corona-Tests sei trotz der bekannt gewordenen Fälle immer noch möglich, meint Gouverneur. In der Nähe vom Ku'damm hatte Gouverneur ein weiteres Testzentrum betrieben. Aktuell ist es geschlossen. Aber wenn er für dieses Zentrum Tests abrechnen würde, die gar nicht stattfinden, würde das kaum einer merken.

Gesamtschaden von 24 Millionen Euro

Betrug mit Corona-Testzentren offenbar größer als befürchtet

Keine Kontrollen

Gouverneur erzählt im Interview mit rbb24 Recherche, dass er von den zuständigen Behörden bisher nie kontrolliert worden sei - weder von der Gesundheitsverwaltung noch von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB). "Von diesen Institutionen ist tatsächlich bei uns noch niemand aufgekreuzt."

Die KVB habe die Kommunikation mit ihm scheinbar komplett eingestellt. Dabei ist sie verantwortlich für die Abrechnung der Tests und die Auszahlung der Gelder – bis zu 12,50 Euro waren es für jeden kostenlosen Bürgertest.

Nach Informationen von rbb24 Recherche soll die Berliner Polizei sowohl der Senatsverwaltung für Gesundheit als auch der KV während der Corona-Pandemie angeboten haben, Corona-Teststellen regelmäßig zu kontrollieren, um betrügerische Abrechnungen in den zwischenzeitlich rund 2.400 angemeldeten Teststellen zu verhindern. Das Angebot wurde jedoch nicht angenommen.

Viele der inzwischen ermittelten Tatverdächtigen sollen nach rbb-Informationen bereits aktenkundig gewesen sein. Zahlreiche dieser Personen standen bereits vor Eröffnung ihrer Testcenter unter Verdacht, bei den Corona-Soforthilfen betrogen zu haben.

Abrechnung der Tests ohne jeden Nachweis

Um an sein Geld zu kommen, muss jeder Teststellenbetreiber nur ein Online-Formular ausfüllen, erklärt Gouverneur. In das Formular trägt er die Anzahl der monatlichen Testungen ein, das war es. Es gibt quasi keine Nachweispflicht, ob und wie viele Tests wirklich stattgefunden haben.

Die KV profitiert aber auch, wenn möglichst viele Tests abgerechnet werden. Denn sie erhält dafür eine Art Verwaltungs-"Provision" in Höhe von 3,5 Prozent. Bei rund 600 Millionen Euro, die in Berlin für Corona-Test abgerechnet wurden, macht das gut 20 Millionen Euro. "Das ist ein Riesenbetrag gerechnet auf die Tests, die in Berlin abgerechnet wurden", meint Gouverneur und fragt sich, "Wieso kann die KV mehr verdienen, wenn sie mehr Tests abrechnet?" Ein offensichtlicher Interessenkonflikt. Aus Sicht von Philippe Gouverneur trägt die Kassenärztliche Vereinigung die Hauptschuld daran, dass der Millionenbetrug mit falsch abgerechneten Corona-Tests möglich wurde.

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Kommissariatsleiter spricht von "staatlichem Organisationsversagen"

Der für den Abrechnungsbetrug zuständige Kommissariatsleiter im LKA Berlin, Jörg Engelhard, geht sogar noch weiter: "Es sind auf verschiedenen Ebenen Fehler gemacht worden, die zu dem Schluss führen, dass hier ein staatliches Organisationsversagen erfolgt ist." Das Problem sei schon die Testverordnung des ehemaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) gewesen, die nach seiner Meinung von einem positiven Menschenbild ausginge und mit sehr viel "Gottvertrauen" unterlegt gewesen sei. Die Überprüfung der Betreiber von Teststellen sei in der ersten Verordnung gar nicht vorgesehen gewesen. Tatsächlich soll das Bundesgesundheitsministerium laut einem Bericht von Spiegel-TV [youtube.com] bewusst darauf verzichtet haben. Spiegel-TV zitiert aus einem internen Papier:

"Auf eine Verpflichtung der KVen, bereits bei der Abrechnung die zugrunde liegenden Angaben zu prüfen, wurde verzichtet, da dies durch den erforderlichen Personaleinsatz zu erheblichen Verzögerungen in der Abrechnung führen und dadurch die Bereitschaft potentieller Leistungserbringer zur Teilnahme an der Teststrategie stark mindern würde."

Auf Anfrage von rbb24 Recherche teilt das Bundesgesundheitsministerium mit, dass die Testverordnungen mehrfach angepasst wurden. So wurden "die Vorgaben zu den Plausibilitäts- und Stichprobenprüfungen durch die KVen sowie dem Umgang mit Auffälligkeiten im Rahmen der Abrechnungsprüfung (z.B. Unterrichtung der Staatsanwaltschaft, Auszahlungsstopp von Abrechnungsbeträgen) präzisiert."

Gesundheitsbehörden wollten keine Amtshilfe der Berliner Polizei

Allerdings wurde in Berlin in der Praxis von diesen Vorgaben offenbar kaum etwas umgesetzt. Denn selbst nachdem das LKA in mehreren Fällen die Ermittlungen wegen Betruges gegen Betreiber von Teststellen aufgenommen hatte, sahen die Gesundheitsbehörden offenbar keinen Bedarf für strengere Kontrollen. Im Dezember 2021 und im Januar 2022 hatten die Ermittler vom LKA Gespräche mit Vertretern der Senatsverwaltung für Gesundheit und der KVB, um mögliche Betrugsversuche aufzudecken und zu unterbinden. "Wir haben in diesen Gesprächen bei der Kassenärztlichen Vereinigung wie auch beim Senat angeboten, dass wir im Wege der Amtshilfe Überprüfungen in Teststellen vornehmen möchten und können", erzählt Kommissariatsleiter Engelhard im rbb-Interview. "Auf dieses Angebot ist leider nicht eingegangen worden."

Ein offizielles Amtshilfeersuchen, welches Voraussetzung für diese Überprüfung gewesen sei, wurde weder von der KVB noch von der Senatsverwaltung für Gesundheit gestellt.

Die KVB schiebt die Verantwortung für die Vorort-Kontrollen der Teststellen der Senatsverwaltung für Gesundheit zu und erklärt: "Die KV Berlin hat im Rahmen ihres Prüfprozesses intensiv daran gearbeitet, Missbrauch in Teststellen aufzudecken und zu unterbinden – immer in regelmäßiger Zusammenarbeit mit dem Senat und den Ermittlungsbehörden."

Die Senatsverwaltung für Gesundheit teilt erst auf Nachfrage von rbb24 Recherche mit: "Für die verbleibenden Teststellen wird aktuell die reguläre Kontrolle vor Ort durch die Polizei im Rahmen eines Amtshilfeersuchens beim Landeskriminalamt geprüft." Außerdem verwies die Senatsverwaltung darauf, dass sie ein Beschwerdemanagement eingerichtet habe, im "Zuge dessen die Beschwerden über eine Teststelle bei strafrechtlicher Relevanz an das LKA weiterleitet werden."

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KV-Vorstände unter Untreue-Verdacht

Das LKA schätzt, dass allein in Berlin durch den Betrug ein Schaden von mindestens 30 Millionen Euro entstanden sei. Insgesamt gibt es 270 Ermittlungsverfahren in der Hauptstadt. So viele wie in keinem anderen Bundesland, wie eine deutschlandweite Abfrage von rbb24 Recherche ergab. In Bayern wurden 66 Ermittlungsverfahren aufgenommen. In allen anderen Bundesländern war die Zahl der Verfahren im niedrigen ein- bis zweistelligen Bereich.

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin, so die Ermittler, hätte jedoch keine Verdächtigen angezeigt. Das bestätigte auch der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft auf Anfrage von rbb24 Recherche.

Vergangene Woche hat das LKA Berlin Strafanzeige gegen zwei Vorstandsmitglieder der KVB wegen des Verdachts der Untreue gestellt. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt nun, welche weiteren Behörden ihrer Rechtspflicht nicht nachgekommen sind.

Neue Testverordnung sieht mehr Kontrollen vor

Ab 30. Juni gilt eine neue Testverordnung. Nur noch für vulnerable Gruppen werden die Tests kostenlos sein, der Rest der Bevölkerung muss einen Eigenanteil von 3 Euro bezahlen. Auch die Vergütung für die Testzentren wird reduziert. Außerdem sieht die Verordnung nun vor, dass in jedem Monat die Abrechnungen von mindestens 2 Prozent aller Teststellen überprüft werden sollen.

Im Testzentrum in Französisch-Buchholz müssen die Bürger seit einigen Monaten schriftlich die Testung bestätigen. Aber diese schriftliche Bestätigung hat auch noch nie jemand von den Aufsichtsbehörden als Nachweis sehen wollen. Philippe Gouverneur bezweifelt, dass das in Zukunft geschehen wird. "Ich weiß auch nicht, wie das Monate später überprüft werden soll, ob diese Personen an dem Tag hier gewesen sind und tatsächlich einen Test gemacht haben." Trotzdem lagert er unzählige Kartons mit unterschriebenen Bestätigungen in einem Abstellraum, für den Fall, dass doch mal jemand nachfragt.

Ihn ärgert, dass die Behörden es den Betrügern so einfach gemacht haben, die somit auch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seriösen Teststellen-Betreibern hatten. Schließlich hätten sie kein Personal bezahlt und auch keine Hygienevorschrift eingehalten. "Außerdem bin ich auch selbst Steuerzahler und sehe, wie hier wirklich Geld aus dem Fenster geschmissen wird. Ich frage mich schon, wie kann das passieren? Wer ist der Verantwortliche? Meiner Meinung nach, bei solchen Summen muss es Verantwortliche geben für diese klaren Fehler. Hierfür muss jemand geradestehen."

Sendung: rbb24 Abendschau, 30.06.2022, 19:30 Uhr

Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die neue Testverordnung gelte ab 1. Juli. Sie gilt aber schon ab 30. Juni. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Beitrag von Ute Barthel und Olaf Sundermeyer

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