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Video: rbb24 Abendschau | Mo 01.08.2022 | | Quelle: imago images/Volker Hohlfeld

"Woche der Demokratie"

Querdenker und Montagsspaziergänger proben den Aufstand

Wenn die Preise weiter steigen, rechnet die Politik mit Straßenprotesten. In Berlin versammeln sich dieser Tage bereits Tausende, die für einen "heißen Herbst" sorgen wollen. Über ihre Demo am Montag konnte der rbb nur unter Polizeischutz berichten. Von Olaf Sundermeyer

Ralf Ludwig ist einer der engsten Weggefährten von Michael Ballweg. Auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude verliest der Rechtsanwalt eine Grußbotschaft des "Querdenken"-Gründers aus der Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim. Der Vorwurf gegen ihn lautet Betrug und Geldwäsche. Es geht um Spendengelder aus seinem Netzwerk.

In der Menge vor der Bühne sind einige Pappschilder zu sehen, auf denen die Freilassung von Michael Ballweg gefordert wird. Hier gilt er nicht als mutmaßlicher Betrüger, sondern als "politischer Gefangener des Systems". Er selbst vergleicht sich bereits mit Rudi Dutschke.

Es ist die zentrale Demonstration in dieser "Woche der Demokratie", wie die Berliner Organisatoren ihr Protestprogramm selbst nennen. Am Ende sind es etwa 6.500 Menschen, die von hier aus mit solchen Slogans durch Mitte vor die Hauptstadtredaktionen ziehen: "Journalisten: Hetzer! Schwätzer?", "Mietmäuler bei ARD&ZDF", "Lügenpresse auf die Fresse"

Protest in Berlin-Mitte

Tausende Menschen demonstrieren erneut gegen Corona-Maßnahmen

Die Stimmung ist feindselig

Es ist der laustarke Zusammenschluss von sogenannten Querdenkern mit den so genannten Montagsspaziergängern, die im vergangenen Winter zu Zehntausenden, zum Teil zu Hunderttausenden, dezentral, in verschiedenen Städten, auf die Straße gegangen sind: in Cottbus, Bernau, Brandenburg an der Havel, Bautzen, Meißen, Gera, Rostock, Hamburg und so weiter und so fort.

Sie fordern unter anderem "das Ende der Corona-Terrorherrschaft", wie sie es nennen, "das Ende der Kriegstreiberei" durch die Bundesregierung (in Bezug auf den Krieg in der Ukraine), das Ausscheiden aus der Nato, sowie die Überwindung der verfassungsmäßigen Ordnung in Deutschland. Bundeskanzler Scholz wünschen manche hier "in den Knast".

Die Stimmung ist feindselig gegen Medienvertreter: Wir als rbb-Fernseh-Team werden bedrängt, beschimpft, angegangen, müssen die Dreharbeiten zunächst abbrechen. Die wenigen Polizisten im Einsatz halten einen Mob auf Distanz, der sich um unser Team bildet. Unter den Wütenden sind auch Reichsbürger, die vom Rande einer ähnlichen, wenn auch zahlenmäßig viel größeren, Demonstration vor zwei Jahren die Stufen des Reichstags besetzt hatten. Die Bilder ihrer wehenden Reichsfahnen gingen um die Welt.

Die Fahnen sind weg, aber die Leute sind dieselben

Die Fahnen sind weg, seit Michael Ballweg angewiesen hat, auf den Demos darauf zu verzichten. Um den "Mainstream-Medien" keine Angriffsfläche zu bieten. Aber die Leute sind dieselben. Erfahren, selbstgewiss, aus gemeinsamen Protesterfahrungen zusammengewachsen. Viele hier haben Ärger mit der Justiz, seit sie sich dem Widerstand in Zeiten der Pandemie verschrieben haben. Das schweißt zusammen.

Auch der Mann, der mit seiner Gruppe eine Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und den gewaltsamen Sturz der Regierung mit geplant haben soll, kommt aus diesem Personenkreis.

Die Polizisten bitten uns zu warten, bis Verstärkung kommt. Aus Sorge vor einer gewalttätigen Eskalation. Erst unter massivem Polizeischutz können wir weiter unsere Arbeit machen. Ralf Ludwig versucht die aufgebrachte Menge zu beruhigen: "Lasst Sie doch berichten, was und wie sie wollen", sagt er, und verweist auf die eigenen Medien, die alternativen, die zahlreich vor Ort sind, und "richtig berichten" würden.

tagesschau.de

Droht ein Herbst radikaler Proteste?

Assoziationen mt NS-Propaganda

Dutzende Streamer, vor allem aber der Sender Auf1. Ein Netzangebot aus Österreich (206.000 Follower auf Telegram) mit Wurzeln in der rechtsextremen Bewegung, das ab sofort auch in Deutschland Fuß fassen will. Über Partner aus dem rechten Mediennetzwerk wie dem - laut Bundesverfassungsschutz - rechtsextremen Monatsmagazin "Compact" aus Falkensee vor den Toren Berlins.

Chefredakteur Jürgen Elsässer und seine Redaktion sind Stichwortgeber und Partner von Pegida und den radikalen ostdeutschen AfD-Landesverbänden. Elsässer hatte schon zum Auftakt der Protestwoche am Brandenburger Tor auf einem übergroßen Titelbild seine August-Ausgabe präsentiert, eine publizistische Maximalprovokation gegen die Bundesregierung: "Der Kaltmacher - Morgenthaus williger Vollstrecker", eine Titelgeschichte über Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). "Die geheimen Pläne für den Gas-Notstand (…). Was Morgenthau einst plante, setzt Habeck um: Die Zerstörung Deutschlands."

Das weckt unwillkürlich Assoziationen an die nationalsozialistische, antisemitische Propaganda nach Bekanntwerden eines Entwurfes von US-Finanzminister Henry Morgenthau 1944 zur Umwandlung Deutschlands in einen Agrarstaat. Damals war die Rede von der "Versklavung Deutschlands" als "Plan des Weltjudentums". Ein Narrativ, das unter Verschwörungsgläubigen als "Morgenthau-Legende" überlebt hat. Hier findet es Anschluss. Und Wirkung.

...oder wahlweise "Wut Winter"

Längst sind die Väter der "Anti-Corona-Proteste" wie Ballweg, Ludwig oder auch der Berliner Anselm Lenz Teil der neurechten Protestmaschine von der AfD über Pegida bis "Compact". Lenz hatte mit seiner Gruppe "Demokratischer Widerstand" die ersten so genannten "Hygienedemonstrationen" im Frühjahr 2020 vor der Berliner Volksbühne initiiert. Vor wenigen Tagen war Lenz beim Institut für Staatspolitik (IfS) in Schnellroda zu Gast, der wichtigsten neurechten Denkfabrik.

Dort wurden bereits die Strategien und Argumente entwickelt, über die die damaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry und Alexander Gauland im Sommer 2015 - auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise - einen "heißen politischen Herbst" proklamiert hatten, der dann auch Einzug hielt: Über Hunderte – zum Teil gewaltsame – Demonstrationen, nach denen es häufig zu Angriffen auf Flüchtlingen und Anschläge gegen deren Unterkünfte kam. Bald nun soll die Protestmaschine wieder Fahrt aufnehmen. Anselm Lenz und andere kündigten einen "heißen Herbst" an, wahlweise ist vom "Wut-Winter" die Rede.

Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Die Aktivisten setzen auf eine Verschärfung von Pandemie, Krieg, Energieknappheit, Preissteigerungen und wirtschaftlicher Lage. Die Maschine läuft nach der Beendigung der Corona-Proteste im Februar allmählich wieder an: Zu beobachten beispielsweise auf der Sommertour von Wirtschaftsminister Habeck, der bei einem Auftritt in der vergangenen Woche in Bayreuth massiv gestört wurde.

Damit beweist die Szene ihre Kampagnenfähigkeit. Mit ihrem Protest gewinnt sie die mediale Deutungshoheit über politische Auftritte. Politiker und Journalisten werden als Feindbilder markiert und diffamiert, im Netz beleidigt und bedroht, bei öffentlichen Auftritten ausgebuht. Schon längst überlegen Spitzenpolitiker deshalb, ob ähnliche öffentliche Auftritte deshalb überhaupt noch sinnvoll sind. Reporter verzichten auf Berichterstattung, meiden Proteste mit Konfliktpotenzial für sich selbst, Kamera-Teams bleiben auf Distanz.

Sendung: rbb24 Abendschau, 01.08.2022, 19:30 Uhr

 

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Beitrag von Olaf Sundermeyer

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