Stichprobe Brandenburg | Großräschen - "Wir wählen Köpfe, keine Parteien"

Di 20.08.19 | 13:32 Uhr | Von Carla Spangenberg
Seebrücke Großräschen (Quelle: rbb|24/Carla Spangenberg)
Bild: rbb|24/Carla Spangenberg

Blauer See, rote Klinkerbauten. Diese zwei Farben zeigen, was politisch passiert in Großräschen. Bei den Kreistagswahlen holte die SPD 41 Prozent, bei der Europawahl wurde die AfD stärkste Kraft. Eine Stadt im Wandel. Von Carla Spangenberg

Am 1. September 2019 haben mehr als zwei Millionen Brandenburgerinnen und Brandenburger die Möglichkeit, den neuen Landtag zu wählen. Doch wie sieht das Leben in der Mark abseits des Berliner Speckgürtels aus? Was bewegt die Menschen? Wir haben uns im Land umgeschaut. Entstanden ist die Serie "Stichprobe Brandenburg".*

Eine Brise empfängt die Besucher in Großräschen. Auf der Terrasse über dem See tummeln sich Touristen und Tagesbesucher, unter ihnen stapft ein Winzer durch die Weinberge. Die grünen Reben heben sich ab vom blauen Nass. Ein idyllischer Touristenort. Der Weg dahin war steinig: Bis 1999 wurde im heutigen Seebecken Kohle abgebaut.

Nun stehen neue Veränderungen bevor: Die AfD hat es in die Stadtverordnetenversammlung geschafft und bei der Europawahl große Zustimmung bekommen. Eine Stadt, die sich im permanenten Wandel befindet. Wie geht sie damit um?

Bahnhof Großräschen (Quelle: rbb|24/Carla Spangenberg)
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Eine Seestraße ohne See

Großräschen steht beispielhaft für die Entwicklungen der Lausitz nach der Wende - und hebt sich als Stadt doch ab. Zunächst wanderten viele Menschen ab, vor allem Spitzenkräfte. Industriezweige verkümmerten, die Brikettfabrik "Sonne" musste schließen. Die Arbeitslosenquote lag bei 35 Prozent. Thomas Zenker wurde 1994 zum ersten Mal Bürgermeister. Der SPD-Politiker setzte früh darauf, den Tagebau in einen See zu verwandeln. "Ich habe unsere Hauptstraße in Seestraße umbenannt, da quietschten im Tagewerk noch die Maschinen", erzählt er, "und alle dachten: Jetzt sind ‘se im Rathaus völlig bekloppt." 

Goldene Lettern auf weißem Bauwerk: Wo einst das Institut für Braunkohle stand, thront nun das Seehotel. Ein Luxushotel für die Touristen. 

Blauer See, rote Klinker

Neben der Kohleindustrie war Großräschen auch bekannt für die Klinker- und Ziegelproduktion. Viele Klinkerbauten schmücken das Stadtbild. Der rote Stolz von Großräschen steht aber im Herzen Berlins: Das rote Rathaus wurde nach dem Krieg mit Klinkersteinen aus Großräschen wiederaufgebaut. 

Seit 25 Jahren begleitet Zenker nun schon als Bürgermeister den Wandel zur Seestadt. Einen Gegenkandidaten gab es seither nie. Man vertraut ihm. Große Zustimmung bekam die SPD auch bei den Wahlen zum Kreistag. Auf 41 Prozent kam sie in Großräschen. Dagegen steht das Ergebnis der Europawahl: Hier wurde die AfD stärkste Kraft. "Die AfD ist für die Menschen wählbar geworden. Das bedaure ich sehr", sagt Bürgermeister Zenker. Auffällig ist aber auch, dass es bei der Europawahl viele ungültige Stimmen gab. 

Ingo Lüdeke auf dem Fußballplatz des SV Großräschen (Quelle: rbb|24/Carla Spangenberg)
Ingo Lüdeke auf dem Fußballplatz des SV Großräschen | Bild: rbb|24/Carla Spangenberg

"Wir wählen Köpfe, keine Parteien"

Eine dieser Stimmen kam von Ingo Lüdeke. Auf kommunaler Ebene ist er Stammwähler und bleibt den Kandidaten treu. Bei der Europawahl wollte er nicht wählen. "Mit diesem Postengeschacher da oben kann ich nichts anfangen", sagt er. "Je höher die kommen, desto mehr werden sie zu Handlangern der Wirtschaftsriesen."

Lüdeke ist Abteilungsleiter Fußball beim SV Großräschen. Auch hier wird auf Beständigkeit gesetzt. 100 Jahre Fußball im Großräschen wurden kürzlich gefeiert. Persönlich erschien dort auch der SPD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Roick. Für Lüdeke hängt die Zustimmung für einen Kandidaten vor allem am persönlichen Vertrauen. "Wir wählen Köpfe, keine Parteien", sagt er, "Wenn jemand gute Arbeit macht, wird er wiedergewählt. Egal, zu welcher Partei er gehört. Wenn es einen kompetenten AfDler gäbe, könnte man den auch wählen." 

Die AfD kommt – oder nicht?

Drei Plätze hat die AfD bei den Kommunalwahlen in der Stadtverordnetenversammlung ergattert. Allerdings steht auf der Liste nur eine Kandidatin. Die AfD kann ihre Sitze nicht füllen.

Die einzige AfD-Abgeordnete ist die Reisebusfahrerin Nicole Kielmann. Zur ersten Sitzung erschien sie nicht. Auf Anfrage erklärt sie, sie sei beruflich in der Steiermark gewesen und habe dies persönlich bekanntgegeben. "Es ist ärgerlich, dass ich die einzige Abgeordnete bin und niemanden habe, der mich vertreten kann", sagt Kielmann. In Zukunft wolle sie an den Sitzungen teilnehmen. "Wir sind eine Stadt und werden auch an einem Strang ziehen", sagt sie. 

Bürgermeister Zenker schlägt ähnliche Töne an: "Wenn Frau Kielmann bei den Sitzungen auftaucht, werden wir kollegial und sachlich mit ihr zusammenarbeiten", sagt er und fügt hinzu: "Dass sie bisher nicht erschienen ist, zeigt meiner Meinung nach, dass die AfD eine Protestpartei ist."

Seehotel Großräschen (Quelle: rbb|24/Carla Spangenberg)
Das Seehotel. | Bild: rbb|24/Carla Spangenberg

Zweimal Glasfaser mit alles, bitte

Meist einstimmig sind die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung. Die Arbeit der letzten Jahre zahlt sich nun aus: Touristen werden angelockt, die Lebensqualität steigt, neue Siedlungen entstehen. Auf diese Siedlungen werden auch die Netzbetreiber aufmerksam: Vor einigen Jahren musste die Telekom bei Bauprojekten noch überzeugt werden, heute legen gleich zwei Netzanbieter Glasfaserkabel in die neuen Siedlungen. 

Auch die Nachfrage nach Bauland sei groß, berichtet Zenker. Auf ein Grundstück kämen drei Bewerber. Die Interessenten stammen aus ganz Deutschland. Die neue Alma-Siedlung liegt oberhalb des Sees fernab des Stadtzentrums. Sie wirkt noch verlassen. Große Bauten, der Rasen kurz geschnitten. Stück für Stück sollen hier die neuen Bewohner einkehren und für eine Stabilisierung der Bevölkerungszahlen sorgen.

*"Stichprobe Brandenburg" ist ein Projekt des 12. Volontärsjahrgangs der Electronic Media School ems in Zusammenarbeit mit rbb|24. Weitere Reportagen aus den Landkreisen finden Sie hier.

Beitrag von Carla Spangenberg

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