Stichprobe Brandenburg | Rathenow - Lockenwickler und Lokalpolitik

So 18.08.19 | 16:19 Uhr | Von Chiara Kempers
Friseur "Chic Saal" in Rathenow (Quelle: rbb|24/Chiara Kempers)
Bild: rbb|24/Chiara Kempers

"Mich kennt hier im Ort fast jeder", sagt Norma Kude. Die Friseurin lebt seit über 20 Jahren in Rathenow. Von hier weg zu gehen, kann sie sich nicht vorstellen. Auch wenn es nicht die Stadt selbst ist, die sie hier festhält. Von Chiara Kempers

Am 1. September 2019 haben mehr als zwei Millionen Brandenburgerinnen und Brandenburger die Möglichkeit, den neuen Landtag zu wählen. Doch wie sieht das Leben in der Mark abseits des Berliner Speckgürtels aus? Was bewegt die Menschen? Wir haben uns im Land umgeschaut. Entstanden ist die Serie "Stichprobe Brandenburg".*

Norma Kude schließt um 11 Uhr ihren Salon „Chic Saal" auf. Er liegt direkt im Zentrum von Rathenow, im westlichen Havelland. Gegenüber vom Salon liegt das City Center, eine Einkaufspassage. Daneben der Märkische Platz, mittwochs ist er gut besucht, denn es ist Markttag. Senioren trödeln, schlängeln sich zwischen Gemüseständen und Kisten voller Schlager-CDs hindurch.

Auf der anderen Straßenseite betritt Normas erste Kundin den Salon, Sabrina. Die beiden kennen sich seit Jahren. Sabrina möchte eine Dauerwelle – und mit Norma quatschen. "Ehrlich gesagt reden wir hier gar nicht viel über Politik, glaube ich. Aber tratschen tun wir auch nicht", sagt Norma, während sie kleine Lockenwickler in Sabrinas Kurzhaarschnitt rollt.

Norma Kude schneidet Mandy im "Chic Saal" die Haare (Quelle: rbb|24/Chiara Kempers)
Im Salon "Chic Saal" | Bild: rbb|24/Chiara Kempers

Zum Shoppen nach Berlin

"Hier gibt es ja auch nichts", meint Stammkundin Sabrina dazu, auch nicht viel, worüber man reden könne. Sie ist in Rathenow geboren, hat die kleine Stadt mit 25.000 Einwohnern nur für ihre Ausbildung in Brandenburg an der Havel verlassen und ist danach wieder zurückgekehrt. Jetzt lebt sie mit Partner und zwei Kindern wieder hier.

Warum Rathenow, wenn es hier nichts gibt? Sie zuckt mit den Schultern, "man ist halt schnell überall." Wenn sie was unternimmt mit den Kindern, mal shoppen gehen möchte, dann fährt sie nach Stendal, Nauen oder Berlin. "Aber mit dem Auto." Etwa eine Dreiviertelstunde braucht man nach Nauen, etwas über eine Stunde nach Berlin.

Bahnanbindung soll verbessert werden – ab 2034

Die Regionalbahn nach Berlin fährt einmal die Stunde. Das sei schon anstrengend, findet Norma Kude, wenn sie am Wochenende mal nach Berlin fahren möchte. Knapp 4.500 Rathenower pendeln jeden Tag zum Arbeiten nach Berlin, das ist ein Fünftel der Einwohner.

Die Deutsche Bahn will die Verbindung nach Berlin verbessern. Bis 2034 soll ein weiteres Gleis gebaut werden. Dann werde der RE4 halbstündig zwischen Rathenow und Berlin fahren. 

Die Dauerwelle wirkt ein, Sabrina erzählt. Die Lehrerin ihrer Kinder habe vor kurzem den Klassenraum gestrichen, auf eigene Kosten. Die Schule sei in einem schlechten Zustand, es gebe Schimmel in den Ecken, Geld für die Sanierung fehle. Den Schulplatz für ihre Kinder überhaupt erst zu finden, war auch nicht leicht, sagt Sabrina.

Es gibt vier Grundschulen im Ort und drei weiterführende Schulen, darunter ein Gymnasium. Viele Klassen seien überfüllt. 29 Prozent der Rathenower Bevölkerung sind über 65 Jahre alt. Rathenow ist damit deutlich "älter" als der brandenburgische Durchschnitt [externer Link]. Viele der jüngeren Bewohner pendeln zum Arbeiten in die umliegenden Städte. Deswegen gebe es auch viele offene Stellen in den sozialen Berufen, vermutet Sabrina.

In Rathenow kennt man sich

Die beiden freuen sich, wenn neue Leute nach Rathenow ziehen: "Das Grundstück bei meiner Oma nebenan gehört jetzt auch Berlinern. Die haben ein schönes, günstiges Wassergrundstück und kommen am Wochenende her. Das hätten die in Berlin nicht haben können." Die Zugezogenen belebten Rathenow etwas, auch wenn sie nicht in Rathenow arbeiten. 

Das Telefon klingelt, Norma nimmt ab, lacht, fragt danach, wie es geht. Die Leute kämen immer wieder, Norma trifft ihre Haarschnitte oft auf der Straße. Dass man sich hier kennt, man sich gut auskennt in der Stadt, das gefällt ihr. Sabrina ist fertig frisiert und geföhnt, die rotbraune Dauerwelle sitzt, die beiden Frauen verabschieden sich herzlich voneinander.

Abgesehen vom Miteinander und der Natur gibt es wenig, was Norma an Rathenow mag. Sie erzählt vom City-Center gegenüber; vor drei Jahren ist sie dort ausgezogen und hat ihren Salon auf die andere Straßenseite verlegt. Ihre Miete im Center sei doppelt so hoch gewesen, sagt Norma. Jetzt stehen viele Geschäfte im Gebäude leer.

City Center in Rathenow (Quelle: rbb|24/Chiara Kempers)
Das City Center | Bild: rbb|24/Chiara Kempers

"Man fährt woanders hin, weil hier nichts ist!"

Inzwischen sitzt die nächste Kundin auf Normas Frisierstuhl; Mandy lebt auch in Rathenow, hat eine erwachsene Tochter und wünscht sich eine "unordentliche Flechtfrisur". Norma macht sich ans Werk und Mandy erzählt; auch sie hat die Gerüchte über das City Center gehört: "Ich find’s schlimm, dass da nichts passiert. Hier wurde jetzt die fünfte Tankstelle gebaut, aber für die Leute wird nichts gemacht. Hier im Zentrum ist ja mal gar nichts los. Deswegen fährt man ja auch woanders hin. Weil hier eben nichts ist."

Norma und Mandy erzählen, in der Stadt höre man immer wieder, dass keine neuen Läden eröffnen, weil die alt-eingesessenen Läden keine Konkurrenz möchten und in der Stadtverordnetenversammlung Druck ausübten. Die Stadt Rathenow antwortet auf diesen Vorwurf, sie habe keinen Einfluss auf die Vermietung der Ladenflächen, weil das City Center einem privaten Investor gehöre.

Gelände der Landesgartenschau in Rathenow (Quelle: rbb|24/Chiara Kempers)
| Bild: rbb|24/Chiara Kempers

Ein Tanzcafé reicht ihr nicht

Norma und Mandy glauben nicht daran. Wenn Rathenow wirklich attraktiver werden wolle, müsste etwas für Kultur und Naturtourismus getan werden, denn: "Was ich hier wirklich liebe und warum ich nie weggehen würde, es klingt blöd in meinem Alter, ich weiß: die Natur!", sagt Norma, sie ist Anfang 30. Das einzige Tanzcafé der Stadt "Angels" reiche nicht aus, um die Wochenenden hier zu verbringen. 

Seit 17 Jahren wird Rathenow von dem CDU-Bürgermeister Ronald Seeger regiert. Ob die Landtagswahlen für die Havelländer etwas bedeuten? 2014 sind weniger als die Hälfte der Havelländer wählen gegangen, 20 Prozent weniger als 2009. "Ich weiß, es ist ein blöder Satz, aber ich habe das Gefühl, egal wer da oben sitzt, es ändert sich nicht wirklich was", sagt Norma. Trotzdem möchte sie am 1. September zur Wahl gehen.

Norma Kude (Quelle: rbb|24/Chiara Kempers)Norma Kude in ihrem Salon.

*"Stichprobe Brandenburg" ist ein Projekt des 12. Volontärsjahrgangs der Electronic Media School ems in Zusammenarbeit mit rbb|24. Weitere Reportagen aus den Landkreisen finden Sie hier.

Beitrag von Chiara Kempers

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