Stichprobe Brandenburg | Wusterhausen/Dosse - Die Zukunft kommt schleichend

Mo 12.08.19 | 06:27 Uhr | Von Pune Djalilehvand
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Autonom fahrender Bus in Wusterhausen (Quelle: rbb|24/Pune Djalilehvand)
Bild: rbb|24/Pune Djalilehvand

Wusterhausen ist ein Ort mit hoher Rollatorendichte. Und einem selbstfahrenden Bus. Er ist der erste seiner Art in Brandenburg und ein Millionenprojekt. Wie reagieren die Wusterhausener auf den Neuling im Ort? Von Pune Djalilehvand

Am 1. September 2019 haben mehr als zwei Millionen Brandenburgerinnen und Brandenburger die Möglichkeit, den neuen Landtag zu wählen. Doch wie sieht das Leben in der Mark abseits des Berliner Speckgürtels aus? Was bewegt die Menschen? Wir haben uns im Land umgeschaut. Entstanden ist die Serie "Stichprobe Brandenburg".*

"Wo bleibt denn der Sausefix? Der wird sich doch nicht verfahren haben?" Herr Kirchhof, der so genannt werden möchte, greift nach der nächsten Zigarette, mit der er seinen terminlosen Nachmittag füllt. Über den leeren Marktplatz hat er die Haltestelle im Blick. Ein paar mal die Stunde kann er sich so über den neuen selbstfahrenden Bus amüsieren. Sausefix. Den Spitznamen hat der Bus seit dem ersten Tag weg, obwohl er nur 15 Kilometer in der Stunde schnell ist.

Herr Kirchhof isst jeden Mittag hier im Imbiss Ribbe. Innen schmücken gelbe Ringelblumen lilafarbene Tischdecken aus Wachstuch. Von der Holzwand hebt sich eine neonorange Tafel hervor, darauf steht handgeschrieben "Selbstbedienung!". Man isst Kartoffelsalat mit Sülze, Schnitzel oder Hackfleischauflauf. Kaum ein Gericht kostet mehr als vier Euro.

Gegenüber liegt die Haltestelle für ein Millionenprojekt, das nicht Sausefix heißt.

Anzeige für autonom fahrenden Bus in Wusterhausen (Quelle: rbb|24/Pune Djalilehvand)
Bild: rbb|24/Pune Djalilehvand

Versuchslabor Wusterhausen

Seit Mitte Juli ist der Ort Versuchslabor. Das Fahrzeug wird von einem französischen Hersteller produziert und ist ein Einzelstück. Das Projekt ist ein Forschungsvorhaben, an dem unter anderem das Bundesverkehrsministerium beteiligt ist. Rund zwei Millionen Euro sind veranschlagt.
Der Einsatz der fahrerlosen Fahrzeuge ist zum größten Teil noch Neuland. Hier soll getestet werden, ob und wie der Bus im ländlichen Raum funktioniert. Wusterhausen ist jetzt ein Brandenburger Musterdorf. Sanierte Fachwerkhäuser, knatternde Störche. Eine Kleinstadt aus dem Bilderbuch und Blick in die Zukunft: hohes Durchschnittsalter. Geringe Bevölkerungsdichte - weit unter dem Brandenburger Durchschnitt.

"Dit war mal schön hier." Kirchhof wünscht sich eine andere Zeit. Früher gab es mehr Grün, sagt er. Heute ist der Marktplatz gepflastert. Beton-Wasserspritzbecken. Kaum Gaststätten, dafür Pizzerien. Er habe nichts gegen Ausländer, aber echte deutsche Wirte gebe es hier eben auch nicht mehr. Schuld sei die Politik. Die würden eh machen, was sie wollen. "Wahlen sind das größte Witzobjekt in Deutschland. Damals, wo ick wählen wollte, durfte ich nicht. Jetzt soll ick wählen gehen, jetzt will ick nich." Noch eine Zigarette. Der Bus kommt. Kirchhoff fährt nicht mit. Viel zu langsam, sagt er.

Fremdkörper im Ortsbild

Der Bus schleicht vorsichtig zur Haltestelle. Optisch zwischen Seilbahngondel und weißem Schmuckkästchen löst er sich wie ein Fremdkörper vom Ortsbild. Im Bus sitzen neugierige Wusterhausener. Am Markt steigen zwei Touristen hinzu. Es ist Platz für sechs Personen - und für "Operator" Kay Stilt. Er ist einer von vier Busfahrern, die vom Busbetreiber Ostprignitz-Ruppiner Personenverkehrsgesellschaft (OPR) für den Testbetrieb ausgebildet wurden.

Ganz selbstständig ist der Bus noch nicht. Start, Stops, Zwischenstops. Immer wieder muss Kay Stilt zur knallgelben Konsole greifen, die um seine Schulter hängt. Darauf zwei Joysticks, mit denen er den Bus an falsch parkenden Autos vorbeischlängelt. Fährt ein Auto zu dicht heran, reagiert das Elektromobil mit Notstop, der sich selbst bei 15 Stundenkilometern wuchtig anfühlt. Kopfschütteln. Auf beiden Seiten.

"Würden sich alle an die Straßenverkehrsordnung halten, wäre es einfacher." Für den Busfahrer aus Wusterhausen sind die anderen Autofahrer das größte Hindernis. Bereits bei der ersten Fahrt gab es einen kleinen Unfall. Nicht selbst verursacht. Das ginge gar nicht, betont Kay Stilt. Ein Auto hatte den Bus beim Vorbeifahren gestreift. Auch der Ort muss sich erst an den neuen Verkehrsteilnehmer gewöhnen.

Anzeige im autonom fahrenden Bus in Wusterhausen (Quelle: rbb|24/Pune Djalilehvand)
Bild: rbb|24/Pune Djalilehvand

Kleiner Bus – große Euphorie

"Schade, dass einige Menschen neuen Dingen so verschlossen sind", heißt es im Bus. Für einen Mitfahrer wird die Fahrt zum historischen Erlebnis: "Das trage ich heute in meinen Kalender ein. Ich kann mich noch dran erinnern, wie hier früher Pferdekutschen langgefahren sind. Wahnsinn, was in 73 Jahren alles möglich ist." Eine junge Mutter freut sich über die Innovation. Für die vielen älteren Menschen im Ort könne der Bus eine riesige Chance sein: "Bis zum Seniorenheim müsste der Bus fahren. Oder zum See. Das wäre toll!" Der Bus ist klein, die Euphorie groß.

Der Tuk Tuk, wie ihn Kay Stilt liebevoll nennt, "weil er so tuckert", könnte wegweisend sein für die Mobilität auf dem Land.

"Der Rücken kann nicht gekrümmter sein"

"So ein selbstfahrender Bus ist ja schön und gut. Doch wer soll das bezahlen? Nicht, dass am Ende die Wusterhausener zur Kasse gebeten werden", ruft Detlef Wandersee über die Veranda gebeugt in grüner Latzhose und Hut. Bei den Wandersees ist der Rasen frisch gemäht und die Stimmung gut. Sie sind seit einem Tag Großeltern. Mit ihren Nachbarn stoßen sie darauf an: Die Frauen trinken Wein, die Männer Bier. Ihr Garten strahlt an diesem Sommernachmittag eine Art heile Welt aus, die so nur auf dem Land zu finden sei. Dass die Gemeinde positive Aufmerksamkeit bekommt, freut sie.

Hier im Osten sei nicht alles so schlecht gewesen, wie so oft dargestellt. Sie schwärmen von einem Früher, das belebter und gemeinschaftlicher war. "Früher durfte man nicht gegen das Staatsoberhaupt schimpfen, dafür aber gegen den Chef. Heute darf man zwar gegen Angela Merkel schimpfen, doch gegenüber des Chefs kann der Rücken nicht gekrümmter sein", sagt Detlef Wandersee. Aber Fortschritt sei nun mal auch wichtig. Und so kann der Bus doch bestimmt den vielen Älteren im Ort helfen. Meinen sie.

Frau vor autonom fahrenden Bus in Wusterhausen (Quelle: rbb|24/Pune Djalilehvand)
Bild: rbb|24/Pune Djalilehvand

Rollator vs. Bus

In einer ersten Phase verbindet der Bus den Stadtkern mit dem Bahnhof und einem Supermarkt. Später soll auch eine Siedlung am Stadtrand angefahren werden. Vor dem Supermarkt steigt eine 80-jährige Wusterhausenerin nicht ein. Die Einkäufe in der Vordertasche des Rollators verstaut, spaziert sie langsam Richtung Ortszentrum.

Die Anstrengung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Die Freude auch. "Solange ich gehen kann, gehe ich." Dass es diesen neuen Bus gibt, ist ihr schon aufgefallen. Mitfahren möchte sie trotzdem nicht. "Da bin ich ja mit meinem Rollator schneller."

*"Stichprobe Brandenburg" ist ein Projekt des 12. Volontärsjahrgangs der Electronic Media School ems in Zusammenarbeit mit rbb|24. Weitere Reportagen aus den Landkreisen finden Sie hier.

Beitrag von Pune Djalilehvand

10 Kommentare

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  1. 10.

    Es gäbe sicherlich noch hunderte von möglichen Anwendungen für so ein Fahrzeug; ist bestimmt auch toll für Ferienregionen, Reha-Zentren und dünn besiedelte Gegenden oder Gebiete mit überwiegend älterer Bevölkerung oder Mobilitätseingeschränkten - es kann einen ja auch selber mal treffen. Mir erschließt bloß so überhaupt nicht, weshalb dieses Vehikel von einem Roboter gefahren werden muß anstatt von einem Menschen. Man muß doch nicht jeden Quatsch (mit)machen nur weil es technisch möglich ist! Was soll daran jetzt besser sein? Weil man damit wegen der ganzen EDV nun mehrere Studierte beschäftigen kann statt eines Menschen, der/die es gelernt hat, Bus(se) zu fahren?

  2. 9.

    Na, Sie haben aber ordentlich Schubladen. Zunehmende Anzahl aggressivere Autofahrer ist durch welche Statistik belegt? Wirklich wichtige Dinge sind welche? Malls sind weswegen albern? :-))) Wenigstens erkennen Sie technischen Fortschritt als etwas positives an.

  3. 8.

    Ich finde den Bus super. Wir wohnen zwar nicht in Wusterhausen ,aber genau sowas fehlt hier bei uns . Wir sind ein Kurort mit Rehakliniken und die Patienten,sowie unseren Senioren haben es oft schwer hier in den Ort zukommen. Daher finde ich sowas total toll und hoffe das weitere folgen.

  4. 7.

    So sehr ich mich auch für moderne Technik begeistern kann:
    Der selbstfahrende Minibus ist z. Zt. nicht mehr als eine Lösung ohne Problem.
    Und ich frage mich, ob es in dünnbesiedelten Gebieten nicht zweckmäßiger wäre, einen (gern staatlich finanzierten) Fahrdienst anzubieten - Fortschritt kann auch die Entwicklung guter Software und eine kluge Vernetzung sein.
    Und ich glaube, für hundertprozentig autonomes Fahren wären nicht nur entsprechende Fahrzeuge erforderlich:
    Der Straßenverkehr enthält dermaßen viele Variablen, dass och zweifle, ob überhaupt irgendeine Hard- oder Software damit in den nächsten Jahrzehnten angemessen umgehen kann.
    Vermutlich muss da auch bez. Straßenbau, Beschilderung und anderer technischer Gegebenheiten noch viel getan werden, um Deutschlands Verkehswege roboterkompatibel zu machen.

  5. 6.

    Selbstverständlich ist das eine sehr gute Errungenschaft. Das sollte sich auch auf den Privat-PKW´s ausweiten um die ständig zunehmende Zahl an aggressiven Autohaltern einzudämmen. Und was gibt es besseres, als die menschliche Lohnarbeit überflüssig zu machen, endlich hätte der Mensch Zeit sich mit wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen. Was das aber mit diesen albernen Shopping-Malls zu tun hat, verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht.

  6. 5.

    Zum einen finde ich selbstfahrende Fahrzeuge unheimlich. Auch wenn Menschen Fehler machen, Technik ist auch anfällig und im Störfall möchte ich nicht in so einem Ding sitzen. Außerdem finde ich, der ländliche Raum hat jeden einzelnen Arbeitsplatz bitter nötig. Dann noch an fahrpersonal zu sparen, ist absurd. Außerdem erlebe ich oft auf Busfahrten in Brandenburg, dass Fahrer und einige Fahrgäste sich gut kennen und dann ist so eine Fahrt immer sehr unterhaltsam und weniger unpersönlich als in der anonymen Großstadt

  7. 4.

    Ja, das ist natürlich eine Entwicklung die gefeiert werden muß. Der Mensch wird überflüssig, hurra. Die Shopping-Malls werden dann von Robotern besucht. Menschen nerven auch nicht mehr mit ihren Klagen über zu hohe Mieten...

  8. 3.

    Ich glaube auch, dass darin ein erhebliches Potenzial steckt. Nicht so sehr in Großstädten, aber vor allem in Kleinstädten. In den Großstädten eher in Randlagen und bei Zubringern, als alternative Erschließung von Wohnstraßen, bei denen ein größer dimensionierter öff. Nahverkehr nicht lohnt.

    Auch wäre es gut, den besagten Unfall mit allen seinen Facetten aufzuarbeiten, denn was sich in Wusterhausen im Kleinen abspielt, kann sich zu einem späteren Zeitpunkt im Großen abspielen. - Was ich aus den gemachten Angaben schließe, ist, dass es ein Missverständnis gab zwischen der Annahme, der Bus werde schon weiterfahren und dem tatsächlichen Stop des Busses an einer Engstelle. Wo die Technik aufgrund ihrer Sensoren das Fahrzeug schon früher abstoppen lässt und der Bus bspw. in der Berliner Orianienstraße garnicht mehr in Gang käme, sind Menschen da "großzügiger". So offenbar auch der den Bus streifende Autofahrer.

    Wie also dieses Problem lösen? Darin liegt die Herausforderung.

  9. 2.

    Tolle Geschichte und Idee! Naja und die üblichen Mecker-Rentner werden auch irgendwann zusteigen. Dann nämlich, wenn es keine Busfahrer mehr gibt und kein Pflegedienst sie mehr besucht.

  10. 1.

    15 km/h zu langsam? Diese Technik ist im Versuchsstadium und noch ausgereift und da sind 15 km/h angemessen. Interessant ist das Ganze auch noch.

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