Knackpunkte für die Berliner Koalition - Wo Rot-Grün-Rot mit dem Klima kollidiert

Die neue Koalition will den Klimaschutz in die Berliner Landesverfassung und die Verkehrswende auf die Straße bringen. Doch vieles im Koalitionsvertrag bleibt vage. Verbände und Unternehmen mahnen, dass Berlin die Zeit wegläuft. Von Jan Menzel
Der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) hat die Latte schon mal hochgehängt, bevor der neue Senat ins Amt gekommen ist. "In dieser Legislatur entscheidet sich, ob die Klimaziele erreicht werden können", schreibt der BUND in einem 20-seitigen Forderungskatalog Anfang November. Zusammen mit anderen Verbänden verlangt der BUND, Grünflächen und unbebaute Areale der Stadt für künftige Generationen zu sichern und zu erhalten. Was sich für manche wie ein Nischenthema von Naturfreunden anhören mag, birgt für die Stadt und den Senat eine ordentliche Portion an politischer Sprengkraft.
Denn die Umweltschützer wollen sich nicht länger mit Versprechungen vertrösten lassen. Sie nehmen dabei auch einen Konflikt mit der neuen Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) in Kauf. Giffey hat den Wohnungsneubau zu ihrem ganz persönlichen Thema gemacht und das Ziel ausgerufen, 20.000 Wohnungen pro Jahr neu zu bauen. Der BUND und andere Akteure wollen dagegen Bodenversiegelung und "Flächenfraß" stoppen. "Der Flächenverbrauch ist bis 2030 auf Netto-Null" zu reduzieren, steht im Forderungskatalog.
Neues Volksbegehren in den Startlöchern
Im rot-grün-roten Koalitionsvertrag findet sich kein Hinweis darauf, wie dieser Konflikt zwischen den beiden Zielen ehrgeiziger Neubau auf der einen und wirksamer Klimaschutz auf der anderen Seite aufgelöst werden kann. Der BUND und sein Landesgeschäftsführer Tilmann Heuser wollen daher außerparlamentarisch Druck machen. Gegenüber dem rbb kündigt Heuser für 2022 ein Volksbegehren an, mit dem die Versiegelung bis 2030 auf Netto-Null reduziert und das Stadtgrün geschützt werden soll. Ähnlich wie beim Volksbegehren "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" droht dem neuen Senat auch hier eine Zerreißprobe. Denn die in den Wahlen gestärkten Grünen werden von ihrer Wählerschaft auch an Erfolgen beim Umweltschutz gemessen.
Mindestens ebenso groß sind Konfliktpotential und Entscheidungsdruck beim Verkehr. "Klimaschutz geht nur durch das Wegnehmen des Hauptemittenten Auto", stellt Roland Stimpel bündig fest. Stimpel sitzt im Bundesvorstand des Vereins FUSS e.V. Er versteht sich als Anwalt der schwächsten Verkehrsteilnehmer und ist sich an dieser Stelle ausnahmsweise einig mit der Radfahrer-Lobby. "Verkehrswende gelingt nur, wenn wir den motorisierten Individualverkehr drastisch reduzieren", sagt der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) Frank Masurat.
ADFC für höhere Parkgebühren
Er ist überzeugt, dass die Zahl der Autos in Berlin Jahr für Jahr um 60.000 reduziert werden müsse, damit der Co2-Ausstoß im Verkehrssektor sinkt. Der einzige Hebel, den eine Kommune wie Berlin habe, sei die Parkraumbewirtschaftung. Dass Rot-Grün-Rot den Preis für den Anwohner-Parkausweis bis zum Jahr 2023 auf 120 Euro im Jahr erhöhen will, hält Masurat für absolut unambitioniert. Von einer "angemessenen Bepreisung" fürs Parken sei die Koalition meilenweit entfernt. Sein düsteres Fazit: "Eine Aufbruchstimmung ist mit der SPD als größtem Player in der Koalition nicht realisierbar."
Masurat findet aber wie Fußverkehrs-Aktivist Stimpel auch Positives im Koalitionsvertrag. Wenn künftig nicht mehr der jeweilige Bezirk, sondern das Land für die Radverkehrsanlagen an Hauptstraßen zuständig ist, gehe das in die richtige Richtung. Bis diese Änderung des Zuständigkeitsgesetzes greife, werde es aber dauern. "Es darf nicht passieren, dass bis dahin alle die Hände in den Schoß legen", mahnt ADFC-Vorstand Masurat.
Was Berlin ab sofort für die Verkehrswende brauche, sei "agiles Verwaltungshandeln" ähnlich wie bei den Pop-Up-Radwegen. "Warum nicht in den ersten 100 Tagen des neuen Senats die nächsten 20 Kilometer Pop-Up-Radwege planen?", schlägt Masurat vor. Um schnell voranzukommen, könnte übergangsweise auch Friedrichshain-Kreuzberg Amtshilfe leisten und andere Bezirke zwischenzeitlich beim Radwegebau unterstützen, bis der Senat diese Aufgabe ganz übernommen hat.
Milieuschutz contra Klimaschutz
Die womöglich härteste Nuss dürfte der neue Senat im Wärmesektor zu knacken haben. Heizung und Warmwasser sind für fast die Hälfte der Berliner Co2-Emmissionen verantwortlich. Rund 60 Prozent des Energiebedarfs in Berlin werden mit den fossilen Energieträgern Öl und Gas gedeckt. Das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) hatte erst kürzlich in einer Studie darauf hingewiesen, dass sich die angepeilte Wärmewende nicht von der sozialen Frage entkoppeln lässt.
In Milieuschutzgebieten - von denen es laut Mieterverein aktuell 60 in Berlin gibt - seien die Regelungen derzeit "ein relevantes Hemmnis für energetische Sanierungen und den Heizungswechsel", schreiben die Studienautoren. Weil in diesen Gebieten massive Mieterhöhungen nicht zulässig seien, würden bei energetischen Sanierungen oft nur Minimalstandards erfüllt. Auch der ökologisch sinnvolle Austausch von Öl- und Gasheizungen zugunsten von Fernwärme oder erneuerbaren Energien werde teilweise nicht genehmigt.
Gasag: Berlin kann nicht warten
"Wenn wir die Klimaschutzziele erreichen wollen, können wir uns kein einziges Jahr Warten mehr erlauben", warnt auch der Chef der Gasag, Georg Friedrichs. Sein Unternehmen ist zusammen mit dem Vattenfall-Konzern der Platzhirsch auf dem Berliner Energiemarkt. Als derzeit noch größter Gaslieferent will die Gasag zukünftig deutlich grüner werden und vor allem als Unternehmen weiter im Spiel bleiben.
Auch deshalb sagt Friedrichs an die Adresse des neuen Senats: "Es fehlen die Hände und die Köpfe. Für die Wärmewende werden aber alle Akteure gebraucht." Er sieht mit Sorge, dass es noch immer kein Berliner Wärmekataster gibt. Dieses Kataster soll sehr kleinteilig darstellen, in welche Straßenzüge künftig Fernwärme geliefert wird und wo andere klimafreundliche Energieträger zum Einsatz kommen können. Unternehmen wie die Gasag bräuchten diese Verlässlichkeit, um Investitionsentscheidungen zu treffen, sagt Friedrichs.
Auch Tilmann Heuser vom Bund für Umwelt und Naturschutz sieht die größte Gefahr darin, dass nun erst einmal viel Zeit vergeht und alle, die neu ins Amt gekommen sind, sich zunächst einarbeiten wollen: "Wir müssen aber endlich zur Umsetzung der Ziele kommen - am besten mit einem 100-Tage-Programm."
Sendung: Inforadio, 30.12.2021, 09:10 Uhr