Glosse | Countdown zum Super-Wahltag - Willkommen im Land des Lächelns

Seit der Nacht von Samstag auf Sonntag dürfen die Wahlplakate für den 26. September aufgehängt oder hingestellt werden. Das macht was mit Berlin, auf den Straßen sind plötzlich viel mehr Zähne zu sehen. Nicht immer steckt viel dahinter. Von Sabine Müller
Franziska lächelt. Kai lächelt. Klaus lächelt. Bettina lächelt. Sebastian lächelt. So viele zugewandte Gesichter sehen die Menschen in der als notorisch raubeinig verschrienen Hauptstadt sonst im ganzen Jahr nicht.
Noch hängen längst nicht alle Wahlplakate, aber die Zahn-Zeige-Dichte im öffentlichen Raum hat seit Samstagnacht exponentiell zugenommen. Beziehungsweise schon ein paar Stunden vorher, denn unter anderem SPD und CDU scherten sich keinen Deut um die offizielle Regel, dass erst ab Mitternacht plakatiert werden darf.
Alle, die früher anfingen, haben jetzt einen Standort-Vorteil, haben sich sozusagen die Filetgrundstücke des Wahlkampf-Immobilienmarkts gesichert: Niedrig genug hängen, um gut gesehen zu werden, hoch genug hängen, um nicht zu leicht abgerissen und beschmiert zu werden.
Drei-Wetter-Taft fürs Auge
Eine Tour quer durch die Stadt hat gerade den Charme der kultigen Haarspray-Werbung aus den achtziger Jahren: 10 Uhr, Bismarckstraße, der Verkehr rauscht. Das Lächeln sitzt. 12 Uhr, Unter den Linden, die Touristen-Kameras klicken. Das Lächeln hält. 14 Uhr, Friedrichshain, alles voller Hipster. Das Lächeln sitzt immer noch.
Dass die Inuit 50 verschiedene Wörter für Schnee haben, ist nur ein Mythos. Dass man auf Berlins Wahlplakaten ungefähr so viele verschiedene Arten des Lächelns sieht, stimmt. Franziska Giffey lächelt adrett, Kai Wegner freundlich, Klaus Lederer leicht verdruckst, Bettina Jarasch lacht mit allen 32 Zähnen. Und natürlich lächeln auch die Bundes-Spitzenleute: Olaf Scholz verschmitzt, Annalena Baerbock zurückhaltend, Armin Laschet gequält.
Auch Michael Müller lächelt. Allerdings fällt der Regierende Bürgermeister dabei fast unten raus aus seinem schlecht designten Wahlplakat. Aber da Müller nicht mehr ins Rote Rathaus will, sondern "nur" in den Bundestag, muss das wohl reichen.
Nur eine lächelt nirgendwo auf der Route durch Charlottenburg, Mitte, Friedrichshain und Moabit: Kristin Brinker, die Spitzenkandidatin der Berliner AfD. Kein einziges Plakat mit ihr ist zu sehen. Passt zur angekündigten Strategie, vor allem mit Inhalten zu punkten. Die Spitzenkandidatin kennt sowieso fast niemand.
In zwei Sekunden (des-)informiert
"Berlin. Aber normal" ist der offizielle Wahlkampf-Slogan der AfD. Auf der Otto-Suhr-Allee in Charlottenburg hat sie ein Plakat mit der Aufschrift gehängt: "Hier könnte der Verkehr auch fließen". Dazu die Forderung: "Bauen statt Stauen". 30 Meter weiter beginnt: Eine Baustelle. Und wer Berlin nur ein bisschen kennt, dem ist klar, dass die bis zur Wahl Ende September ganz bestimmt noch nicht weg sein wird.
Studien haben gezeigt, dass Menschen im Durchschnitt zwei Sekunden lang auf ein Wahlplakat schauen. Das dürfte bei manchem Motiv nicht im Ansatz ausreichen, um es zu verstehen. Etwa wenn die Linkspartei plakatiert: "Mieterinnen Schützen Die Linke". Also will die Linke Mieterinnen schützen? Oder sollen die Mieterinnen die Linke schützen? Und warum fehlt das Gender-Sternchen? Vielleicht funktioniert das Plakat besser auf Türkisch – das gibt's nämlich auch.
Die neue Partei Klimaliste Berlin punktet einerseits mit teils liebevoll selbstgemalten Plakaten und dem schrulligen Denglisch "Ick will Future". Nur, was meint sie mit "Klimaschutz skalieren"? Wer da geistig nicht gleich aussteigt und sich stattdessen zu Hause erstmal den Duden greift, hat sich das Fleißbienchen wirklich redlich verdient.
Synapsen-Flattern im Großhirn
Manche der großen Straßen sind derart mit Plakaten vollgehängt, dass einem im Wahl-Wald ganz wuschig wird. Zu welcher Partei gehört nochmal dieser seltsame Piet Klocke? Und warum glaubt er, dass Berlin "Synapsenflattern" braucht? Ach so, das ist gar kein Wahlplakat, das ist Werbung für ein Comedy-Programm.
Apropos laut gelacht: Die paneuropäische Partei Volt wirbt für sich mit dem Slogan "New Kiez on the Block". Haha, um mit den echten New Kids zurückzuschlagen: "Let's try it again". Klaus Lederer, der Spitzenkandidat der Linken, verspricht auf seinem Plakat: "Mit Euch mach ich das". Klingt irgendwie nur unwesentlich eleganter als "Ich mach’s mit Euch".
Irgendwann schwirrt einem der Kopf vor lauter Eindrücken und Fragen. In wie vielen Sprachen hat die Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" eigentlich plakatiert? Warum hat das SPD-Herz lauter Kanten statt schöner Rundungen? Was macht Bettina Jarasch unter dem Werbe-Plakat für die Hüpfburgen-Oase - hängen die nur zufällig zusammen rum oder ist das eine versteckte Botschaft?
Der Plakat-Wahlkampf hat gerade erst begonnen und die CDU legt gerade erst richtig los mit ihrem Slogan "Bereit für mehr". Aber in Berlin sind viele vermutlich jetzt schon bereit für weniger.