Berlin-Wahl | Serie "Endstation Demokratie?" - "Die Kids machen Party in der Sparkasse, weil es sonst hier nix mehr gibt"
Nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigten ist in Hellersdorf zur Wahl gegangen. Wie kommt es, dass so viele Menschen nicht mehr an die Demokratie glauben? Es hat wohl auch mit einem Gefühl von fehlender Fairness zu tun. Von Haluka Maier-Borst
Berlin hat gewählt. Und trotzdem sind viele Menschen nicht im neuen Abgeordnetenhaus repräsentiert. Weil sie nicht zur Wahl gegangen sind. Weil sie ihre Stimme einer Partei gegeben haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist. Oder weil sie gar nicht wählen durften.
Es gibt viele Faktoren, wieso Menschen aus einem Teil der Stadt unzureichend im Parlament vertreten sind. In der Serie "Endstation Demokratie?" fahren wir in die Extrembeispiele für diese Faktoren und reden mit den Menschen vor Ort. Fragen, wie es dazu kommt, was das mit ihnen macht und was sich aus ihrer Sicht ändern müsste.
1. Folge: Hellersdorf, Hochburg der Nicht-Wähler:innen
Nach mehr als zwei Stunden in Hellersdorf fällt der Satz, der wohl unvermeidlich ist. "Die meisten in Hellersdorf, die haben sich irgendwie aufgegeben", sagt Romy und kramt in ihrer Kippenschachtel, während sie hinter dem weißen Tresen der Sportsbar Helle sitzt.
Hinter ihr stehen Wodka- und Rum-Flaschen in Glas-Vitrinen und ein Bildschirm für die Überwachungskamera. Links ist eine kleine Lounge-Ecke mit dunklen, ausgeschalteten Flachbildschirmen. Hier und da steht noch eine Pflanze. Hinten in der Ecke ist ein Spielautomat und wieso auch immer eine Karte von Thailand. Im Kühlschrank stehen Bierflaschen, Cola, Limo und von irgendjemandem abgepacktes Hackfleisch.
Es riecht nach Rauch und da es früher Mittag ist, gibt es keine Kunden. Nur Romy, ein Kumpel von ihr und ich sitzen am Tresen und reden. Reden darüber, wie es dazu kam. Dass man sich in Hellersdorf aufgibt. Dass hier so wenige Menschen wählen, wie nirgendwo anders in Berlin. Und in den zwei Stunden zuvor habe ich eine Ahnung über das Wieso bekommen, während ich durch Hellersdorf gegangen bin.
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Nicole, 39, steht an einer zugigen Kreuzung. Sie erzählt, wie immer mehr gebaut – und zugleich nie etwas für die Allgemeinheit gemacht werde. "Das neue Schwimmbad kommt jetzt erstmal nicht, die Grünflächen verschwinden. Es gibt immer weniger Orte hier, wo man noch sein will", sagt sie. Entsprechend sehe sie keinen Sinn im Wählen, denn nichts verändere sich hier zum Guten. "Meine Eltern waren nicht wählen und ich gehe auch nicht wählen. So ist das hier", sagt sie und erzählt dann davon, dass sie sich gerade wieder um einen Zwei-Euro-Job bemühe, um es über die Runden zu schaffen.
Eine halbe Stunde später erwische ich vor einer Haltestelle Jan, 56. Ja, früher habe er noch gewählt, aber dieses Mal habe er es gelassen. "Die waren in der letzten Regierung mit dabei und haben versprochen, dass es gerechter zugeht. Gesehen habe ich davon nix", sagt er. Ihm selbst gehe es ja gut, sein Job am Flughafen BER sei nicht schlecht bezahlt, er persönlich wolle nicht jammern. Aber zu wenig würde für die Obdachlosen getan. Zu wenig für die Alten. Fair sei das alles nicht mehr.
"Die Rechten wähl' ich nicht und die anderen machen nicht, was sie versprechen", sagt Jan. Jan ist damit nicht der einzige und das führt zu einer absurden Situation. Obwohl bei der Wiederholungswahl weniger Menschen in Hellersdorf die AfD gewählt haben als bei der Wahl 2021, hat die Partei prozentual dazugewonnen. Eben weil so viele Menschen gar nicht mehr wählen gehen.
Und damit zurück zu Romy und der Sportsbar. Die 42-Jährige redet nicht wenig. Es sind weite Bögen, die sie schlägt, während ihr Kumpel und ich ihr zuhören. Wahrscheinlich zu weit. Mal geht es um die teuren Mieten und die Inflation, die dazu führten, dass sie drei Jobs hat. Das hängt ihrer Meinung nach auch damit zusammen, dass man sich nicht an Verträge halte und "dem Russen nicht seine Pufferzone" lasse.
Sie redet davon, dass Angela Merkel nicht ehrlich genug gewesen wäre bei der Geflüchteten-Thematik und die Politik zu wenig für die Deutschen tue. "Ich habe kein Problem mit den Geflüchteten, die sollen kommen, wenn sie in Not sind. Aber wir müssen uns genauso um die Obdachlosen hier kümmern. Da werden Container-Unterkünfte abgebaut anstatt die für Menschen in Not weiter zu verwenden", sagt Romy. Auch Romy geht es nicht um ihre persönliche Lage, sondern um das grundsätzliche Gefühl, dass die soziale Gerechtigkeit, das Maß verloren gegangen ist.
Man muss nicht, nicht jeder kann und schon gar nicht will ich persönlich Romy in dem zustimmen, wie sie die Welt erklärt. Und doch kann ich verstehen, wieso Romy zur Wahl gegangen ist, aber ihren Wahlzettel durchgestrichen hat. Und damit ihre Stimme ungültig gemacht hat. Während Politiker:innen im Berliner Wahlkampf über Fahrradwege in der Innenstadt und die Vornamen von Menschen in der High-Deck-Siedlung diskutiert haben, sehen Hellersdorfer Probleme anders aus.
Romy erzählt, dass ihre Töchter und andere Jugendliche hier kaum etwas in der Freizeit tun können. "Letztens haben hier Kids im Vorraum der Sparkasse Party gemacht, weil es sonst nix gibt und die Jugendclubs längst zugemacht haben." Sie spricht davon, wie das Gebäude der benachbarten Schule erst abgerissen und nun neu gebaut werde. Sie verstehe oft nicht, was hier gemacht werde und was nicht und vor allem wieso.
Niemand wolle hierhin und die, die trotzdem kämen, täten das eben nicht freiwillig. "Es treffen sich hier alle, die ihre Probleme haben und das macht es nicht einfacher. Vor allem wenn die Politik nichts für die Menschen hier tut." Wie schwierig die Verhältnisse sind und wie sehr die Hilfe fehlt, zeigt auch eine andere Zahl. Im Berlin-weiten Vergleich ist in Hellersdorf die Schuldnerquote mit am höchsten.
Vielleicht ist das ein Stück weit die Antwort darauf, wieso sich in Hellersdorf so viele aufgeben und noch mehr die Demokratie. Weil die Politik zuerst Hellersdorf aufgegeben hat. Weil keine der großen Parteien im Wahlkampf viel darüber gesprochen hat, was man in Hellersdorf tun wird. Weil die große und die kleine Politik zu wenig, zu schlecht oder gar nicht erklärt, was man hier bisher getan hat und tun wird. Weil am Ende das Berliner Abgeordnetenhaus weiter weg scheint als 20 Kilometer von der Sportsbar Helle.