Datenanalyse - Wie sich das Wahlverhalten in Berlin seit 1990 verändert hat
Am 12. Februar wird das Abgeordnetenhauswahl noch einmal gewählt - zum neunten Mal seit der Wiedervereinigung. Während das Wahlverhalten im Westen vergleichsweise konstant bleibt, geht es im Zentrum und Osten seitdem wechselhaft zu. Von G. Gringmuth-Dallmer und C. Reinhardt
Berlin ist auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch eine geteilte Stadt. Zumindest, wenn es danach geht, wie die Menschen im Westen und Osten der Hauptstadt wählen: konservativ im Westen, links im Osten, mit einer SPD, die in beiden Stadthälften zuhause ist. Aber über die Jahre verwischen die klaren Kanten der 1990er Jahre – und aus einem grünen Farbklecks in Kreuzberg wird eine grün dominierte Innenstadt.
Ein Blick auf eine bewegte Wahl-Geschichte des wiedervereinten Berlins:
Westen schwarz, Osten rot
Die Stunde Null der repräsentativen Demokratie im wiedervereinigten Berlin sind die Wahlen vom 2. Dezember 1990. Zum ersten Mal wählen die Berlinerinnen und Berliner ihr gemeinsames Landesparlament, parallel übrigens zum Bonner Bundestag. Über zwei Millionen Wahlberechtigte nehmen teil, nie wieder wird eine so hohe Beteiligung erreicht.
Die politischen Verhältnisse scheinen klar: Der Westen geht an die CDU, der Osten an die SPD. Der ganze Osten? Nein. Zumindest in elf Wahlbezirken bekommt die Partei des Demokratischen Sozialismus PDS in Nachfolge der offensichtlich gar nicht so diskreditierten SED die meisten Wählerstimmen. Aber auch die CDU kann in Mahlsdorf beziehungsweise Kaulsdorf ihren östlichsten Wahlkreis erobern.
Kleine Wahlbeteiligung, große Koalition
Den ersten gesamtberliner Senat unterstützt eine große Koalition aus CDU und SPD. Das tut beiden Parteien nicht gut: 1995 fällt die Wahlbeteiligung unter 70 Prozent, die CDU verliert 190.000 Stimmen, die SPD sogar 220.000. Im Osten zieht die PDS an der SPD vorbei, in Kreuzberg erobern die Grünen Wahlkreis 2. Allerdings: Die CDU bleibt stärkste Kraft, im Westen sowieso. Für eine bürgerliche Koalition reicht es aber wieder nicht, die FDP scheitert an der 5-Prozent-Hürde. Die große Koalition regiert weiter, zum Ersten, zum Zweiten und …
… zum Dritten. Auch 1999 dominiert die CDU den Westen, die PDS ist im Osten unangefochten. Aber die Wahlbeteiligung? Sinkt weiter. Und die SPD? Verliert weiter. Die Probleme häufen sich. Während der dritten großen Koalition in Folge steigt die Berliner Verschuldung immer weiter, 270.000 Menschen sind arbeitslos gemeldet. Nur der CDU und ihrem Regierenden Bürgermeister Diepgen scheint das nichts anhaben zu können …
Der Knall: Bankenskandal und Spendenaffäre
… bis 2001 die sogenannte Bankenaffäre die große Koalition zum Platzen bringt. Die CDU verliert nicht nur ihr langjähriges Führungspersonal, sondern über ein Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler.
Plötzlich ist die SPD die stärkste politische Kraft und bereit, ein politisches Tabu zu brechen. SPD und PDS schließen die erste rot-rote Koalition. Sie sparen, bis es quietscht – aber trotzdem steigt die Verschuldung bis 2006 über 60 Milliarden Euro, die Wahlbeteiligung fällt unter 60 Prozent. Der anschließende Wahlerfolg für die SPD ist relativ: Zwar büßt 2006 auch Wowereits SPD an absoluten Wählerstimmen ein, aber noch mehr verliert die völlig zerstrittene CDU. Die PDS stürzt regelrecht ab – das Mitregieren bekommt der Regionalpartei Ost offensichtlich nicht.
Grüne Innenstadt
Die Grünen nutzen die Chance. Während die SPD viele PDS-Wahlkreise im Osten übernehmen kann, brechen die Grünen aus Kreuzberg aus und besetzen weitere Innenstadtbezirke. 1990 waren die Alternative Liste (West) und Bündnis 90/Grüne (Ost) noch getrennt angetreten und wären ohne Sonderregelung für die beiden Stadthälften an der 5-Prozent-Hürde gescheitert.
2006 konkurrieren die Grünen zum ersten Mal mit der PDS um den dritten Platz hinter den beiden (immer kleiner werdenden) Volksparteien SPD und CDU. 2011 erreichen sie zwar ihr bisher bestes Ergebnis, sind nach der Wahl aber enttäuscht. Denn in den Umfragen hatte es zwischenzeitlich so ausgesehen, als könnten die Grünen die Regierende Bürgermeisterin stellen. Nicht einmal für eine Regierungsbeteiligung reicht es: Die SPD verliert zwar erneut, bleibt aber immer noch stärkste Kraft – und entscheidet sich für eine Koalition mit der CDU.
CDU: Aus schwach wird schwächer
Schon wieder eine Große Koalition? So groß wie früher ist sie gar nicht mehr. 1990 hatten noch über 1,4 Millionen Wählerinnen und Wähler für CDU und SPD gestimmt. Elf Jahre später können die beiden Parteien nur noch 750.000 Menschen hinter sich bringen. Das genügt der SPD, um weiter den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Und die CDU hofft, sich im Senat mit Innen- und Wirtschaftspolitik zu profilieren und möglichst bei den nächsten Wahlen wieder an alte Stärke anzuknüpfen.
Erste Drei-Parteien-Regierung
Im Abgeordnetenhaus sind jetzt sechs Parteien vertreten. Die Piraten sind zwar nach nur einer Runde im Parlament gleich wieder draußen, aber die AfD übernimmt die Plätze in der Opposition. Auch die FDP ist wieder da, nachdem sie im Wahlkampf ganz auf die Flughafenschließung in Tegel gesetzt hatte.
Die SPD braucht jetzt gleich zwei Partner, um ihren Regierenden Bürgermeister durchzubringen. Die Linke hat sich nach dem Rot-Rot-Trauma wieder erholt, die Grünen wollen schon lange regieren. Rot-Rot-Grün kann sich auf die Stimmen von rund 860.000 Wählern stützen – mehr Unterstützung hatte zuletzt die große Koalition von 1999. Aber: Fast genauso viele Wahlberechtigte haben ihre Stimme gar nicht abgegeben. Nicht einmal jeder vierte Einwohner hat eine der drei Parteien gewählt, die Berlin regieren.
"Gutes Regieren", mit diesem Slogan verspricht R2G, verlorenes Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen. 2021 kann die Dreierkoalition (nun in der Reihenfolge Rot-Grün-Rot) ihren Rückhalt in der Bevölkerung ausbauen, auch dank der steigenden Wahlbeteiligung. 75,4 Prozent ist der beste Wert seit dem Wendejahr 1990 - und das mitten in der Corona-Krise, aber eben auch an einem Superwahltag, der Folgen hat.
Die Zahl der Nichtwählenden sinkt jedenfalls auf ein Rekordtief, die Stimmen für die kleinen Parteien verdoppeln sich fast, und der Anteil der Briefwählerinnen und -wähler, der sich seit 1990 eher schleichend vergrößert hatte, macht einen immensen Sprung.
Aber die besonders erfolgreiche Mobilisierung durch den "Superwahltag" parallel zur Bundestagwahl und dem Enteignungs-Volksentscheid geht mit langen Schlangen und vielen Wahlfehlern einher. Statt als Lichtblick für die Demokratie geht die Rekordwahl vom 21. September 2021 als Chaoswahl in die Berliner Wahlgeschichte ein. Der Berliner Landesverfassungsgerichtshof erklärt sie für ungültig und ordnet die vollständige Wiederholung an. Die Farben werden neu gemischt.