Nach verlorener Vertrauensfrage im Bundestag - Sind 60 Tage Wahlvorbereitung noch zeitgemäß?

Selten wurde eine Bundestagswahl unter ähnlichem Zeitdruck organisiert. Berlins Landeswahlleiter findet, es brauche mehr Vorbereitungszeit. Insbesondere wegen der Briefwahl. Andererseits gibt es gute Gründe für die knappe Frist. Von Oliver Noffke
- Nach verlorener Vertrauensfrage im Bundestag muss innerhalb von 60 Tagen Neuwahl stattfinden
- Für die Organisation eine Herausforderung, insbesondere wegen Aufwände für Briefwahl
- Vorgabe im Grundgesetz soll längeres Machtvakuum verhindern
In zwei Wochen findet die vorgezogene Bundestagswahl statt. In der Geschichte der Bundesrepublik ist dies kein Einzelfall. 1972 wurde früher gewählt als geplant, nachdem das Parlament Kanzler Willy Brandt (SPD) das Vertrauen entzogen hatte. Auch 1983 wurde vorzeitig gewählt, vorausgegangen war ein Bruch der Koalition zwischen SPD und FDP.
Zuletzt wurde 2005 eine Bundestagswahl vorgezogen. Damals hatte Kanzler Gerhard Schröder (SPD) den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestags gebeten, obwohl er zuvor eine Vertrauensfrage im Parlament überstanden hatte. Nach einer desolaten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für seine Partei kurz zuvor wollte Schröder dennoch Neuwahlen.
Dass Bundestagswahlen verfrüht abgehalten werden, ist also selten, aber keinesfalls ungewöhnlich. Das Grundgesetz ist darauf vorbereitet. "Im Falle einer Auflösung des Bundestags findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt", heißt es in Artikel 39 [gesetze-im-internet.de].
Die Frist aus einer anderen Zeit
Innerhalb dieser Frist muss einiges erledigt werden. Die Parteien müssen ihre Listenplätze vergeben und Direktkandidat:innen bestimmen. Zeit für Widersprüche innerhalb der Parteien und vor Gerichten muss gewährleistet sein. Wahlhelfer:innen müssen angeworben und eingewiesen werden. Wahlausschüsse müssen die Aufstellungen bestätigen. Schließlich müssen alle Unterlagen gedruckt werden. "Allein hier in Berlin drucken wir 3,4 Millionen Stimmzettel", sagt Landeswahlleiter Stephan Bröchler auf Anfrage von rbb|24.
Die vorgesehene Frist hält er nicht mehr für zeitgemäß. "Diese bis zu 60 Tage, die im Gesetz festgelegt sind, stammen aus einer Zeit, als es noch keine Briefwahl gab", so Bröchler. "Und die Briefwahl ist eben enorm aufwendig." Viele weitere Schritte sind notwendig.
Die Wählerinnen und Wähler müssen die entsprechenden Unterlagen beantragen, bevor sie gezielt verschickt werden. Wahlämter müssen sichere Lagerräume vorhalten. Schließlich sind am Wahlabend mehr Handgriffe notwendig als bei der Urnenwahl, um die mehrfach verpackten Briefumschläge auszuzählen.
"Um diese Prozesse zu organisieren, bei den hohen Standards, die wir haben, sind diese 60 Tage in der Tat knapp", so Bröchler. Zumal es dieses Mal tatsächlich nur 58 Tage sind [bmi.bund.de]. Normalerweise stehen für die Briefwahl um die sechs Wochen zur Verfügung. Diesmal bleiben weniger als 14 Tage.
Mittlerweile wird fast die Hälfte der Stimmen per Brief abgegeben
Trotz der höheren Aufwände stellte die Organisation der Briefwahl lange Zeit kein größeres Problem dar. Sie war einfach zu unbedeutend. Über Jahrzehnte lag ihr Anteil an den Stimmen insgesamt im unteren bis mittleren einstelligen Bereich.
Erst 1957 wurde sie eingeführt. Ursprünglich, um Menschen teilhaben zu lassen, die wegen Krankheit, Alter oder längeren Aufenthalten im Ausland nicht persönlich im Wahllokal erscheinen können. Gedacht war die Briefwahl als Ausnahme. Bis zur EU-Wahl 2009 musste diese noch individuell begründet und genehmigt werden – wobei Ämter entsprechende Anträge so gut wie nie ablehnten.
Seit den neunziger Jahren hat die Briefwahl allerdings deutlich an Beliebtheit zugelegt. Bei der vergangenen Bundestagswahl machte sie insgesamt 47,3 Prozent der abgegeben Stimmen aus. Überraschend war das kaum, schließlich wurde mitten in der Corona-Pandemie gewählt. Bei der EU-Wahl und verschiedenen Landtagswahlen, die seither abgehalten wurden, ist der Anteil der Briefwahlstimmen zwar wieder zurückgegangen – doch er lag deutlich über Vor-Pandemie-Niveau.
Bröchler rechnet damit, dass es diesmal wieder einen hohen Anteil an Briefwahlstimmen geben wird. "Ich denke, wir werden wieder zwischen 45 und 50 Prozent landen." Ende Januar warb er deshalb dafür, dass nach der Wahl eine Debatte zu dem Thema geführt wird. "Ich fände es interessant, wenn man sich 90 Tagen nähern könnte", sagt er auf Nachfrage dazu.
Bröchler sagt, eine Verlängerung würde nicht nur mehr Zeit für die Organisation schaffen, sondern auch helfen, mögliche Folgeprobleme zu vermeiden. Er rechnet damit, dass es aufgrund der verkürzten Zeit zu mehr Klagen gegen die Wahl als üblich kommen könnte. Der Bundestagsausschuss für Wahlen und schließlich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe müssten sich damit beschäftigen – nach der Wahl. "Es kann aber auch nicht im Interesse einer neuen Regierung sein, sich erst noch damit auseinandersetzen zu müssen."
Das Grundgesetz will lange Unsicherheiten verhindern
Bröchler ist bewusst, dass es auch gute Argumente gegen eine Verlängerung gibt. "Aus einer politischen Perspektive stellt sich das vielleicht ganz anders dar", sagt er. "Parteien, insbesondere aus der Opposition, haben natürlich ein hohes Interesse daran, dass möglichst schnell ein Regierungswechsel ermöglicht wird."
"Dass die Frist nicht beliebig lang ist, soll verhindern, dass eine längere, politisch unsichere Zeit existiert", sagt Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität. Die Frist von 60 Tagen soll ein langes Machtvakuum verhindern. "Regierungslose Zeiten oder solche unter einer geschäftsführenden Regierung, die letztlich nicht handlungsfähig ist, sollen nicht zu lang werden."
"Das Grundgesetz ist in all diesen Fragen auf eine gewisse Regierungsstabilität angelegt", erklärt Waldhoff. Nach einer vorzeitigen Auflösung des Bundestags soll schnell eine neue handlungsfähige Regierung gefunden werden können, die von einer Mehrheit gestützt wird. "Wenn eine Vertrauensfrage negativ ausfällt, wie jetzt wieder geschehen, spricht das von Verfassungswegen für eine gewissen Beschleunigung des Ganzen." Eine Verlängerung der Frist sieht Waldhoff deshalb kritisch.
Wie wirkt sich die Briefwahl auf die Wahlgrundsätze aus?
Die zunehmende Beliebtheit der Briefwahl allein rechtfertige eine Verlängerung wohl kaum, gibt Waldhoff zu bedenken. "Angesichts der Leistungsfähigkeit der Post ist das sicher nicht banal", sagt er im Hinblick auf die nun zur Verfügung stehenden zwei Wochen. "Aber letztendlich ist es ein organisatorisches Problem, das in dieser Zeit hinzubekommen." Die Fristen seien nicht willkürlich im Grundgesetz festgelegt worden. "Deshalb ist es schwierig, verfassungsrechtlich hart dagegen zu argumentieren."
Zumal es grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Bedeutung der Briefwahl gibt. Denn sie strapaziert einige der fünf Wahlgrundsätze. Wahlen sollen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein [gesetze-im-internet].
Ob Stimmzettel, die zu Hause ausgefüllt werden, wirklich frei von äußeren Einflüssen oder geheim ausgefüllt werden, ist quasi nicht überprüfbar. In einem Wahllokal ist das anders. Den Briefwahlunterlagen ist deswegen eine eidesstattliche Versicherung beigefügt. Die Briefwähler:innen garantieren damit, unbeeinflusst gewählt zu haben.
Dass durch die Briefwahl der Zeitraum für die Stimmabgabe in die Länge gezogen wird, zerrt ebenfalls an einem Wahlgrundsatz. Wer per Brief wählt, verpasst, was später im Wahlkampf passiert. "Wenn sich dann die Nachrichtenlage ändert, weil ein Spitzenkandidat einen Fehler begangen hat, ist der Informationsstand für Urnenwähler ein anderer als bei den Briefwählern", sagt Waldhoff. "Das ist natürlich ein Gleichheitsproblem."
Andererseits wird die Allgemeinheit einer Wahl durch den Postweg gestützt. Denn auch diejenigen können teilnehmen, die nicht persönlich im Wahllokal erscheinen können.
Neue Regelung müsste hohe Hürden überwinden
Klagen aufgrund der außergewöhnlich kurzen Fristen hält er im aktuellen Fall hingegen für wenig aussichtsreich. "Das hat es 1983 gegeben und das hat es 2005 gegeben. Insbesondere von Abgeordneten, die keine Chance mehr hatten, in den neuen Bundestag zu kommen", sagt er. "Mit dem Bruch der Ampelregierung im November hatte Bundeskanzler Olaf Scholz aber keine parlamentarische Mehrheit mehr. Insofern war die Notwendigkeit für die Vertrauensfrage durchaus gegeben."
Waldhoff plädiert dafür, dass die zuständigen Verfassungsorgane im Blick behalten, wie sich der Anteil der Briefwähler künftig verhält. "Man nimmt die Defizite auf der einen Seite in Kauf für die Vorteile auf der anderen Seite." Die Frage sei nur: Ab welchem Anteil würde die Briefwahl die Wahlgrundsätze nicht bloß strapazieren, sondern untergraben?
Eine Entscheidung darüber könne schlussendlich nur in Karlsruhe getroffen werden, sagt Waldhoff: "Das Bundesverfassungsgericht steht meines Erachtens in einer Beobachtungspflicht." Die Hürden für eine neue Regelung wären allerdings hoch. Um das Grundgesetz zu ändern, ist sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit notwendig [bundestag.de].
Die Kommentarfunktion wurde am 09.02.2025 um 18:36 Uhr geschlossen. Die Kommentare dienen zum Austausch der Nutzerinnen und Nutzer und der Redaktion über die berichteten Themen. Wir schließen die Kommentarfunktion unter anderem, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt.