Kommentar | Bundestagwahl - Wahlrecht erst ab 18 - es ist Zeit, dass sich das ändert

Das Wahlrecht ab 18 bei den Bundestagswahlen ist von gestern. Es führt zu einer Unwucht unserer Demokratie und zu schlechteren politischen Ergebnissen. Kinder und Jugendliche müssen dringend mehr zu sagen haben, meint Hanno Christ
Eines steht schon vor der Bundestagswahl am 26. September fest: So alt waren die Menschen im Schnitt noch nie, die ihre Stimme abgeben können.
Deutschland vergreist, der Anteil der Über-60-Jährigen in der wahlberechtigten Bevölkerung liegt schon jetzt bei rund 36 Prozent. Tendenz bekanntermaßen steigend. Dagegen liegt der Anteil der Unter-30-Jährigen bei gerade mal knapp über 13 Prozent.
Zugleich geht es bei dieser Wahl wie wohl noch nie um Themen der künftigen Generationen, etwa Klimawandel, Bildung oder Pflege. Dumm nur, dass die, die es maßgeblich betreffen wird, nichts zu melden haben. Drei Millionen 14- bis 17-Jährige haben nach wie vor kein Wahlrecht. Es ist Zeit, dass sich das ändert.
Demokratie zeigt sich geizig bei Vergabe von Wahlrechten
Dabei haben Studien längst bewiesen, dass auch Jugendliche unter 18 Jahren in der Lage sind, sich ein politisches Urteil zu bilden – und wählen würden. Weitaus weniger wissenschaftlich durchleuchtet sind dagegen die Älteren im Land: Oder wissen Sie auf welchen Grundlagen sich 80- oder 90-jährige ihr Urteil bilden? Oder es überhaupt noch können?
Demokratie, wie wir sie in Deutschland kennen, zeigt sich geizig bei der Vergabe von Wahlrechten. Wenn Du sie aber einmal bekommen hast, kriegst Du sie kaum wieder los. Wer noch keine 18 ist, muss dagegen das Warten lernen. Was den Jugendlichen in Deutschland bleibt, sind allenfalls politisch bedeutungslose Sandkasten-Spiele wie U18-Wahlen.
Viele Erwachsene dagegen schmeißen ihre Stimmen hin und treten den Gang zur Urne erst gar nicht mehr an. Manche nennen es Protest. Manchmal ist es schlicht Faulheit. Die Corona-Pandemie hat eine erschreckende Anfälligkeit für anti-demokratische Verschwörungstheorien offenbart. Schlechter und extremer können es Jugendliche auch nicht hinbekommen.
Das politische System der BRD ist beim Thema Wahlrecht voller Widersprüche. Erst 1970 wurde das Wahlrecht bei Bundestagswahlen von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Es darf bezweifelt werden, dass es mit einem plötzlichen Entwicklungsschub der Jugendlichen zu tun hat. Und heute? Sinkt das Wahlalter weiter, zumindest regional, hier mal so, dort mal so: Mittlerweile können Jugendliche in einigen Bundesländern bei Landes- und Kommunalwahlen auch schon ab 16 wählen.
Interessen der Jüngeren geraten unter die Räder
Bei den Bundestagswahlen eben nicht. Von Jahr zu Jahr mehren sich die Stimmen, dass Menschen auch mit 16 über die Zusammensetzung des Bundestages abstimmen dürfen. Aber es sind eben nur Debatten - ohne, dass sich etwas ändert. Deutschland entwickelt sich damit zu einer defekten Demokratie, in der die Interessen der Jüngeren unter die Räder geraten sind. Traurig, dass es etwa bei der Klimapolitik erst der Wucht eines Bundesverfassungsgerichts bedarf [tagesschau.de], um Kindern und Jugendlichen zu ihrem Recht auf eine nachhaltige Politik zu verhelfen.
Die wichtigsten politischen Debatten, die den Kern unseres gesellschaftlichen Lebens berühren, werden ohne echte Mitwirkungsrechte der Jüngeren geführt. Parteien können es sich erlauben, an den Jüngeren vorbei zu regieren – etwa eine unzulängliche Klimapolitik fahren, Rentensysteme zu Lasten der nächsten Generationen auflegen, Kitas und Schulen seit Jahrzehnten nicht bedarfsgerecht ausfinanzieren. Wie anders würde Politik in diesen Bereichen aussehen, wenn die Jüngeren gefragt worden wären?
Arroganter Blick der Älteren auf die Jüngeren
Nicht nur das politische Selbstverständnis unseres Landes offenbart einen arroganten Blick der Älteren auf die Jüngeren. Dabei haben die Älteren immer wieder gezeigt, dass sie es nicht immer besser wissen. Die Senkung des Wahlalters in einem ohnehin immer hochbetagteren Land könnte wichtige Impulse geben und Anreize setzen, mehr und früher in die politische Bildung junger Menschen zu investieren. Es wird gerne argumentiert, dass Jugendliche nicht einmal voll geschäftsfähig seien.
Warum sollten sie also so früh wählen dürfen? Weil Jugendliche sich - anders als im Geschäftsleben - nicht mit einer Stimmabgabe ruinieren können. Wo aber wäre der Schaden für die Demokratie, den ein Wahlrecht von mindestens 16 oder drunter anrichten würde? Was wäre so falsch daran, wenn Funktionäre eines politischen Systems sich fortan mehr Mühe geben müssten, mit jüngeren Generationen zu kommunizieren und Rücksicht zu nehmen?
Es wäre nur ein zusätzliches Angebot einer modernen Demokratie, das junge Menschen annehmen oder ablehnen können. So wie es Millionen Erwachsene auch tun. Schade, dass es dieses Angebot bei der kommenden Bundestagswahl wieder nicht geben wird.
Sendung: Inforadio, 08.08.2021, 10:20 Uhr
Dieser Kommentar stammt von Hanno Christ, Redakteur Landespolitik Brandenburg, 45 Jahre alt