Interview | 30 Jahre Trainer in Rathenow - "Dass wir Regionalliga spielen, ist eine totale Sensation"

Mo 01.07.19 | 16:47 Uhr
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Luckenwalde, Deutschland, 14.06.2015: Fußball NOFV Oberliga Nordost 30. Spieltag 2014 / 2015 - FSV 63 Luckenwalde - FSV Optik Rathenow (Quelle: Imago/ Wells)
Video: rbb|24 | 01.07.2019 | mit Material von rbb sport | Jonas Schützeberg | Bild: Imago/ Wells

Ingo Kahlisch amtiert am Montag genau 30 Jahre als Cheftrainer des Regionalligisten FSV Optik Rathenow - und das laut eigener Aussage ohne Vertrag. Im Interview spricht er über die tiefe Bindung an den Verein - und über den Wandel des Fußballs allgemein.

Bei Ingo Kahlisch laufen in Rathenow wirklich alle Drähte zusammen. Wer beim FSV Optik anruft, bekommt den Cheftrainer und Vorstand meist direkt selbst an die Strippe. Seine Sportmarketingfirma und der Sportshop, wo Kahlisch tagsüber arbeitet, bevor es nachmittags zum Training ins Stadion Vogelgesang geht, sind über die Jahre aus praktikablen Gründen gleich zur Geschäftsstelle geworden.

Optik Rathenow ist längst Kahlischs Lebenswerk. Seit genau 30 Jahren ist er Cheftrainer, eine im Fußballgeschäft nahezu unvorstellbare Zeit. In den vier höchsten Spielklassen in Deutschland gibt es niemanden, der auch nur annähernd an seine Dienstzeit auf der Trainerbank herankommt.

rbb|24: Herr Kahlisch, wie begehen Sie das Jubiläum?

Ingo Kahlisch: Es ist keine Feier geplant, weil ich jetzt gar keine Zeit habe. Es ist Saisonvorbereitung, da ist genug zu tun.

Sind die 30 Jahre trotzdem eine besondere Zahl für Sie?

Na, wenn man mal in der Ecke sitzt, fragt man sich schon: Wo ist die Zeit geblieben? Aber viele Arbeitnehmer machen mehr als 30 Jahre ihren Job. Das ist nichts Besonderes und ich will mich darüber auch nicht definieren, sondern einfach nach vorne schauen und weiter genießen, dass ich das mache, was ich immer wollte.

Aber gerade im Fußballgeschäft ist es ja keinesfalls alltäglich.

Ja, aber Fußballgeschäft relativiert sich bei uns auch. Ich denke, wir waren immer sehr vernünftig und bescheiden und sind bei unseren Wurzeln geblieben. Und ich denke, das ist schon sehr wichtig in der heutigen Zeit. Ich habe hier sicher etwas mehr Ruhe, aber es kann auch jemand kommen und kritisch sein, wenn wir schlecht spielen. Aber wenn dann gleich alles hinterfragt wird wie im Profigeschäft, lache ich mich tot.

Warum war so eine Ausnahmebeziehung ausgerechnet zwischen Optik Rathenow und Ingo Kahlisch möglich?

Das hat sich einfach so entwickelt. Nach 1989 ist im Prinzip alles zusammengebrochen [Anm. d. Red.: Die Optischen Werke als Arbeitgeber fielen weg.] und ich war dann mit den Spielern alleine, ohne Geld, ohne alles. Dann sind wir bis in die Regionalliga aufgestiegen, das war damals die dritte Liga, mit Union und Tebe Berlin sowie Dynamo Dresden. Irgendwie ist es dann mein Leben geworden. Ich kann das gar nicht beschreiben, das ist gewachsen. In den letzten zehn Jahren waren wir drei Mal im Pokalendspiel, haben es zwei Mal gewonnen, sind drei Mal in die Regionalliga aufgestiegen, zwei Mal auch wieder abgestiegen. Aber es ist sehr schwierig, wir müssen hier um alles kämpfen, hier ist ja nicht viel.

Gab es einen Zeitpunkt, wo alles zu Ende hätte gehen können?

Ich hatte ein, zwei Möglichkeiten in meinem Leben, mich zu verändern – ich hätte mal nach Cottbus gehen können, nach Berlin oder Babelsberg – aber die kamen sehr kurzfristig, ich hätte innerhalb von 24 Stunden den Verein verlassen müssen, das kam für mich nicht in Frage.

Vor fünf Jahren hatten Sie gesundheitliche Probleme. Es war von einem Schlaganfall die Rede.

Es war eine Gehirnblutung, wirklich nicht schön. Da haben mir wieder der Sport und die Jungs geholfen, dass ich schnell wieder dahin komme, wo ich jetzt bin. Nach sieben Wochen stand ich wieder auf dem Trainingsplatz, in der Zwischenzeit haben meine Tochter Karoline, unser Kapitän Jerome Leroy und Uwe Jerucz den Laden am Laufen gehalten.

Mit wem verlängern Sie denn eigentlich Ihre Verträge?

Ich selbst habe gar keinen Vertrag, das läuft schon 30 Jahre so. Wir vereinbaren das im Vorstand mit Mario Schmeling, Norbert Ohst und Volko Schulz per Handschlag.

Wann war klar, dass Rathenow Ihr Lebenswerk wird?

1996 habe ich meinen Fußballlehrer gemacht und mein Vater hat immer noch gehofft, dass ich mal woanders hingehe. Aber ich wusste schon, wie das Fußballgeschäft läuft. Und irgendwo hinzugehen, die Kegel aufzustellen und mich von irgendeinem Idioten rausfeuern zu lassen, kann man mit Geld nicht entschädigen. In der heutigen Zeit ist das Trainerdasein ja total verrückt, wenn ich das Gespinne in der Bundesliga mit all den Trainerwechseln sehe. Es kann nie eine Entwicklung geben, wenn es nach jedem zweiten verlorenen Spiel heißt, da muss was geändert werden. Die Grundlage von der Bundesliga bis zur Kreisklasse ist immer dieselbe: Man muss gucken, was man für Spielermaterial hat und was man daraus machen kann.

Wer waren die herausragendsten Spieler, die Sie hier trainiert haben?

Wir hatten Anfang der 1990er Jahre einen russischen Offizier als Torhüter, der in Elstal stationiert war, Wjatscheslaw Tschanow, der spielte vorher für Torpedo und ZSKA Moskau, der war überragend. Wir hatten dank des Stützpunkts öfter ein paar Russen und gute Connections, zumal es auch günstig war, die hatten ja auch kein Geld. So haben wir auch Chwitscha Schubitidse aus Georgien geholt, der später noch einige Jahre in der 2. Bundesliga spielte.

Behalten Sie all Ihre ehemaligen Spieler im Blick und bleiben im Kontakt?

Ja, aber mit den Spielern aus den 1990er Jahren hat es sich ein bisschen auseinander gelebt. Den Jungs hatten wir zwar auch allen einen Job besorgt, aber die waren Maurer, Tischler, Elektriker, das war eine ganz andere Generation. Und im Sport ist man auch nicht immer im Guten auseinander gegangen, das gibt es hier genauso wie überall.

Trainer Ingo Kahlisch bei einem Spiel gegen Luckenwalde (Quelle: Imago/ Wells)
Bild: Imago/ Wells

Und wie ist es, wenn Sie als Trainer in Rathenow 30 Jahre lang immer wieder neue Mannschaften aufbauen müssen?

Bei uns ist es recht konstant. Wenn ich unseren Kapitän Jerome Leroy sehe: Der ist aus Berlin gekommen und wollte am Anfang auch immer sonst wo hin, überall zum Probetraining. Nun ist er seit elf Jahren hier, das hätte er sich auch nie vorstellen können. Man muss auch einen Unterschied machen zwischen Amateur- und Profibereich. Irgendwann kriegen die Jungs mit, dass sie keine Profis mehr werden. Und dann wissen sie, dass sie hier eine ordentliche Basis haben, um eine Lehre und einen Beruf zu machen und trotzdem weiter leistungsorientiert Fußball zu spielen.

Beruf, Lehre? Sie verstehen sich als Regionalligist noch als Amateurklub?

Wir sind ein reiner Amateurfußballsportverein. Wir haben ganz pragmatische Probleme. Beim Trainingsauftakt fehlen bei uns einige Spieler, weil sie Urlaub haben, das gibt es bei anderen Regionalliga-Vereinen nicht. Wir trainieren einmal täglich um 17 Uhr und manchmal mit den Jungs, die Ferien haben, noch dienstags vormittags um zehn.

Mit den Bedingungen spielen andere Vereine in der Landesliga oder sind total abgestürzt.

Richtig. Warum das hier klappt, müssen andere beurteilen. Vielleicht habe ich auch ein bisschen Ahnung, da muss ich mal frech sein mit 62 Jahren. Es hängt oft an einzelnen Personen, entweder hast du einen Gönner, der Geld gibt, oder einen Bekloppten wie mich, der überall rum rennt und alles zusammentreibt. Es will ja keiner mehr hören, weil es so regelmäßig ist, aber dass wir Regionalliga spielen, ist einfach eine totale Sensation, das ist für uns die Champions League. Eigentlich haben wir dafür gar nicht das Geld. Aber ich habe es immer geschafft, mit Spielern, die woanders aussortiert wurden, eine ordentlich Fußballmannschaft zusammenzukriegen. Die haben ja auch Qualität, aber im Fußball fallen eben auch viele durch den Rost – und die fangen wir dann auf: Hier bekommen sie eine Perspektive, neben ein paar Hundert Euro Aufwandsentschädigung oder einem Amateurvertrag. So um die zehn Spieler habe ich selber als Sport- und Fitness-Kaufmann ausgebildet. Den anderen kann ich meist etwas besorgen. Ich bin seit 30 Jahren in Rathenow, da kennt man sich.

Und das spricht sich in der Fußballszene rum?

Irgendwann begreifen sie alle, dass sie von dem Geld, das sie in der Regionalliga verdienen, nicht ewig leben können. Was machen denn Fußballer, wenn sie 5.000 oder 6.000 Euro brutto verdienen, was bleibt da übrig? Gar nichts bleibt bei den meisten übrig. Das ist die Erfahrung, das können Sie mir glauben: großes Auto, schicke Uhren, teure Kleidung. Die Jungs geben alles aus und stehen mit 30 Jahren mit leeren Händen da.

Trainer Ingo Kahlisch (Rathenow) bedankt sich nach dem Spiel bei den Fans (Quelle: Imago/ Wells)
Bild: Imago/ Wells

Kahlisch ist auf Betriebstemperatur. Auf seine eigenen 30 Jahre schaut er ungern zurück, erzählt kaum Anekdoten, besitzt keine Andenken. Aber der aktuelle Zustand des Fußballs wühlt ihn spürbar auf. Dass Online-Portale mittlerweile über Spielerwechsel auf Kreisliga-Ebene berichten und sie als "Transfercoups" bezeichnen, findet er ebenso lächerlich wie die Überhöhung des Fußballs. Trainer, die ihre Spieler jeden Tag besser machen oder mit taktischen Kniffen den Sport revolutionieren, all das hält Kahlisch mindestens für übertrieben. "Die sollen sich alle nicht so wichtig nehmen", sagt er, "wenn es im Fußball um Leben oder Tod geht, um jeden Punkt, und es ist die 90. Minute, dann hauen die den Ball auch in der Champions League unters Dach und alle jubeln."

Mussten Sie in den 30 Jahren irgendwas anpassen?

Nein, dieses ganze Gedöns im Fußball, dieses hohle Gequatsche... Ich habe ein Trainerbuch aus den 1980er Jahren, das Fußballtraining hat sich doch nicht verändert. Was ist denn Sport? Grundlagenausdauer, Kraftausdauer, Schnelligkeit, Spielformen. Das sind die Grundvoraussetzungen sportwissenschaftlich. Heute sehen die Fußballer alle hübscher aus, sind rasiert, kämmen sich die Haare und sind gekleidet wie Modepuppen, das hat sich geändert...

... aber Fußball spielen können müssen sie immer noch.

Der Fußball ist schneller geworden, technisch besser, und das hat auch damit zu tun, dass wir uns in der Gesellschaft verändert haben. Wir haben nicht mehr nur diese deutschen Hauklötzer. Durch Multi-Kulti haben wir auch viele beweglichere, schnellere, technisch bessere Spieler am Ball.

Das Training sieht aber noch ähnlich aus?

Wir haben jetzt mehr Hütchen und eine Koordinationsleiter. Früher sind wir zwischen  Fahnenstangen gerannt, haben uns Steine hingelegt, und heute muss man eben, weil die alle so unbeweglich und faul sind in jungen Jahren, eine Koordinationsleiter hinlegen. Aber auch Beweglichkeit, Gewandtheit, Koordination, das sind ja nur zwei, drei Prozent im Fußball. Es ist ja Stuss, dass dadurch Spieler besser werden. Wenn ich in der Bundesliga immer höre, ein Trainer mache die Spieler besser, falle ich vom Glauben ab: Du kannst die Mannschaft besser machen und organisieren, aber nicht mehr den einzelnen Spieler. Das beste motorische Lernalter eines Sportlers, eines Fußballers, ist acht bis zwölf, da werden die Grundlagen gelegt.

Machen Sie Videoanalysen oder -studium?

Nein, da haben wir nicht die Zeit. Ich habe jetzt ein CoachingEye gekauft, ein kleines einfaches Videosystem für 3.000 Euro, da können wir direkt am Platz mal einfache Sachen aufzeichnen und zeigen. 

Trainer Ingo Kahlisch bei einem Spiel gegen Luckenwalde (Quelle: Imago/ Wells)
Bild: Imago/ Wells

Wieder ein Thema, das Kahlisch eigentlich stört. Er habe eine Diktatur überstanden um in einer Demokratie zu leben - und die schätze er sehr. Aber dass heute jeder glaube, etwas zu sagen zu haben, stört ihn dann doch. Früher hätte ihm sein Trainer etwas gesagt, und das sei dann so gewesen. Heutzutage müsste alles ausdiskutiert und ausanalysiert werden. Deswegen gehe auch in der Politik kaum etwas voran, weil sich alle immer nur treiben ließen, zu kurzsichtig handeln und reagieren würden. Und damit schlägt Kahlisch wieder die Schleife zum Fußball.

Fußball ist für mich immer noch die schönste Nebensache der Welt, auch wenn er sich verändert hat, aber ich denke, gerade in den unteren Bereichen sollten wir glücklich sein, wenn wir noch viele engagierte und ordentliche Leute finden, die da arbeiten, und da sollte man sich gut überlegen, in der Landesliga oder -klasse, ob man seine Trainer bei drei, vier Niederlagen gleich immer raushaut.

Gibt es denn Menschen im Fußballgschäft, die Sie schätzen?

Hermann Gerland [Anm. d. Red.: langjähriger Mitarbeiter und aktuell Leiter der Nachwuchsabteilung bei Bayern München], der war mal Trainer bei Tebe und seitdem telefonieren wir ab und zu – ein, zwei Mal im Jahr. Ich bin mit Jens Härtel befreundet, mit Karsten Heine, die kenne ich noch als Spieler, auch Jochen Ziegert und Lothar Hamann. Im Berliner Raum kennt man sich, aber später haben ja selbst die Amateurvereine regelmäßig die Trainer gewechselt. Dass ich hier bin, hat sich schon rumgesprochen, das wissen die anderen – und wundern sich, wie ich das so lange aushalte (lacht).

Haben Sie in der langen Zeit ein Netzwerk aufgebaut?

Mittlerweile rufen mich Dutzende Berater am Tag an, immer mal wieder auch Leute, die hier früher waren oder mit denen ich in den vielen Jahren schon mal zu tun hatte, an manche kann ich mich selbst dann gar nicht erinnern. Es haben sich Kontakte in die USA, nach Japan und Neuseeland entwickelt, von wo Spieler hierher kommen und für 500 Euro und ein Zimmer spielen wollen. Die wollen den deutschen Fußball kennenlernen, sind hochmotiviert. 

Das Gespräch an einem Vormittag unter der Woche wird alle fünf Minuten unterbrochen. Ingo Kahlisch muss in seinem Geschäft mit interessierten Rentnern plaudern und sie auf dem Laufenden halten, er hat Angelegenheiten mit Spielern zu erledigen, verlängert kurz in einem Hinterzimmer einen Vertrag, organisiert eine Reinigungskraft für die hinterlassene Wohnung eines ehemaligen Spielers, nimmt Anrufe von Beratern und Spielern entgegen, die sich bewerben, und einem Sponsor, der mitteilt, den Verein auch in der kommenden Saison zu unterstützen. Eine Mutter will mit ihrem neunjährigen Sohn wissen, wann und wo der Nachwuchs trainiert. Ein Flüchtling möchte eine eigene Mannschaft aufmachen und am Spielbetrieb teilnehmen, ein anderer Trikots für sein Team abholen. Auch ein Sponsor und Bürgermeister Ronald Seeger (CDU) schauen kurz vorbei. "Ich bin hier das Mädchen für alles", sagt Kahlisch schließlich, "aber ich mache das gerne. Das ist mein Leben."

Das Interview führte John Hennig.

2 Kommentare

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  1. 2.

    Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!! Hab das Interview mit viel Freude gelesen.
    Viel Erfolg noch im weiteren Leben mit Optik Rathenow und natürlich viel Gesundheit

  2. 1.

    Glückwunsch und *daumenhoch* toller Kerl, Multitaskingtalent! Viel Erfolg der Mannschaft und dem Trainer!

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