Berlin verliert auch drittes Euroleague-Spiel - Am Fuße des Zauderbergs

Mi 14.10.20 | 01:45 Uhr | Von Sebastian Schneider, rbb|24
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Tip-Off im Euroleague-Heimspiel Alba Berlins gegen Anadolu Efes Istanbul am 13.10.20 in Berlin (Quelle: imago images / Tilo Wiedensohler).
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Drei Euroleague-Spiele, drei Niederlagen: Die Aufgaben für Alba Berlin türmen sich gleich zu Beginn der Saison. Die Berliner haben beim 72:93 gegen Anadolu Istanbul keine Chance und müssen schnell einen Weg aus ihrer Verkrampfung finden. Von Sebastian Schneider

Ein klarer Abend im Oktober, es läuft ein sogenannter Thriller unter Beteiligung von Anadolu Istanbul und Alba Berlin: Immer wieder wogt die Führung hin und her, 6.500 Fans brüllen sich die Seele aus dem Leib, es geht in die Verlängerung und…das war am 11. Oktober 2019. Alba verlor gegen einen der Euroleague-Favoriten mit nur einem Zähler und durfte sich wie ein Sieger fühlen.

Aber ein Jahr später trifft man sich in Berlin und auch sonst ist fast alles anders: 700 Fans durften kommen, Corona lähmt auch die Liga, niemand brüllt, Anadolu ist immer noch spitze, aber Alba hat nichts mehr zu melden. Mit 72:93 verlieren die Berliner an diesem Dienstagabend, sie wirken, als wären sie am Beginn ihrer Saisonvorbereitung und nicht im laufenden Betrieb. "Leichter wird’s auf keinen Fall. Hoffentlich gibt es eine Lernkurve", sagt Albas Heimkehrer Maodo Lo hinterher.

Das Pathos zündet in Coronazeiten nicht

Am Freitag erst hatten die Bayern in Friedrichshain vorbeigeschaut und Alba kalt und herzlos erledigt. Nach so einem Kinnhaken freuen sich Spieler normalerweise, wenn sie möglichst schnell wieder Gelegenheit bekommen, aufzustehen – Hauptsache nicht grübeln. Ein Basketballer ohne Selbstbewusstsein braucht sich nicht mal die Schuhe zu schnüren. Aber Kaliber wie Anadolu Istanbul lassen den Mut nicht wachsen. Der erfolgreichste Klub der türkischen Basketballgeschichte kann sich zwei Profis wie Vasilije Micic und Tibor Pleiß leisten. Und von denen kriegt Alba am Dienstag einfach zuviel.

Der Aufbauspieler Micic, Raubvogelnase, dunkler Vollbart und Locken, nestelt sich an seinem Haargummi herum, während die Berliner Fans stehen und zum Takt der Einlaufmusik klatschen. Normalerweise soll das den Gästen zeigen, wer hier das Sagen hat. Aber so ganz ohne Kunstnebel, Scheinwerferkegel im Dunkel und vor allem ohne High Fives mit dem Albatros zündet das Ganze nicht.

Vasilije Micic (Mitte, blau), Point Guard von Anadolu Efes Istanbul, behauptet im Euroleague-Spiel am 13.10.20 in Berlin den Ball gegen seine Gegner Peyton Siva (links) und Luke Sikma von Alba Berlin (Quelle: imago images / Bernd König).
Symbolbild: Peyton Siva (links) strauchelt, Istanbuls Guard Vasilije Micic behält die Kontrolle.Bild: www.imago-images.de

Bei Bayern hatten sie keine Verwendung

Im ersten Viertel zündet sowieso nix, jedenfalls nicht bei den Männern in den gelben Leibchen. Micic trifft sofort aus der Mitteldistanz, Albas gewiefter Werfer Eriksson schmeißt einen Airball. Nach nur viereinhalb Minuten liegt Berlin schon mit 3:13 zurück. Die Mannschaft ist immer dann stark, wenn sie ins Rennen kommt, den Flow findet, ihrem Gegner ein aberwitziges Tempo aufzwingen kann. Das weiß inzwischen jeder Amateurscout von Kaunas bis Crailsheim. Aber dazu kommt es heute nie.

Vasilije Micic hat gleich die Kontrolle über das Geschehen übernommen, er bestimmt den Rhythmus und die Verteidiger können ihn nicht vom Ball trennen. An diesem Abend wird er es auf 13 Assists bringen. Micic brettert über rechts in die Zone, über links, findet seine Kollegen, erkennt, was passieren wird. Man sieht in ihm unmöglich noch den Jungspund, für den die Bayern vor einigen Jahren keine rechte Verwendung hatten. Sie verkannten Micics Möglichkeiten und ließen ihn ziehen. Das bereuten sie bitterlich.

In Istanbul ist der 1,96 Meter lange Serbe zu einem der Besten seiner Zunft gereift. Micic ist kräftiger als früher aber immer noch erst 26 Jahre alt, und ein Steuermann wie er wird mit wachsender Erfahrung nur noch gefährlicher. "Basketball fühlt sich so einfach an für mich, ich fühle mich wie ein Veteran mit 20 Jahren Erfahrung", hat Micic kürzlich in einem Euroleague-Interview gesagt.

Könnte man als alberne Angeberei verbuchen, aber das, was er da in der Berliner Halle fabriziert, gibt ihm Recht. Micics Pass erreicht den riesigen Kölner Tibor Pleiß inmitten der Zone, der muss sich kaum strecken, um den Ball im Korb zu drapieren. Pleiß hat Schuhgröße 53, er ist 2,21 Meter lang und wirkt noch länger. Man kann sich das nicht vorstellen, aber es stimmt. Der Center ist eine der seltenen Ausnahmen, für die die Bezeichnung Lulatsch ausdrücklich anerkennend gemeint ist.

"Kill him, Pleiss!"

Alba kommt mit den schnellen Pässen der Gäste nicht klar. Die müssen nicht mal ihre beste Verteidigung zeigen, um Ballverluste zu provozieren: Im ersten Viertel unterlaufen Berlin sechs Turnover, ein bizarr hoher Wert. Berlins Coach Aito nimmt schon nach nicht einmal fünf Minuten eine Auszeit, für seine Verhältnisse eine Rarität. Aber er sieht längst, dass sein Team gerade keinen Weg findet, sich selbst aus der Misere zu befreien. Als der lange Pleiß einen winzigeren Gegenspieler aufs Korn nehmen kann, bellt sein heiserer Coach Ergin Ataman: "Kill him, Pleiß! Kill him!" Nach dem ersten Abschnitt führt Anadolu mit 29:14.

Diesmal liegt es nicht mal daran, dass die weniger groß gewachsenen Berliner beim Rebound schludern würden, das passt soweit - es geht um Zielstrebigkeit, Einsatz, vor allem um Ideen. Aitos freierer Stil ist für die meisten, strikt gedrillten Profis eine Umstellung, weil er von ihnen verlangt, mehr mitzudenken und eigene Entscheidungen zu treffen. Aber so knirschend, mühsam und konfus wie zu diesem Saisonanfang wirkte es noch nie.

Johannes Thiemann ALBA, mit Ball, rechts Tibor Pleiß, Anadolu Efes, ALBA Berlin - Anadolu Efes Istanbul, 13.10.20 in Berlin (Quelle: imago images / Bernd König).
Zum Vergleich: Albas Center Johannes Thiemann (mit Ball) ist 2,05 Meter groß, Istanbuls Center Tibor Pleiß (2.v.r.) 16 Zentimeter größer.Bild: www.imago-images.de

53:35 zur Pause

Im zweiten Viertel hält Alba nur seine exzellente Dreierquote im Spiel, überhaupt sind Distanzwürfe die einzige Waffe, die in Frage kommt - denn unter den Korb spielen sich die Gastgeber so gut wie nie. Der Center Ben Lammers wirkt auf dem Niveau noch überfordert, Sikma hat immer noch zuviel mit sich selbst zu tun, Thiemann aber macht seine Sache ordentlich. Aber in der Defense brechen Istanbuls Große wieder und wieder durch, werden gefoult und treffen trotzdem, bis zur Halbzeit 64 Prozent ihrer Versuche von drinnen und 63 Prozent von draußen.

Sie bekommen auch mehr als doppelt soviele Fouls wie Berlin, was nicht an gemeinen Schiris liegt, sondern daran, dass Alba sich oft nicht mehr anders zu helfen weiß. "Play! Play! Play!", treibt Vasilije Micic seine Kollegen an, als er den Ball hat. Sein Gegenüber Peyton Siva trifft an diesem Abend fast immer die falsche Entscheidung, als er statt des Netzes nur Luft erwischt, wirkt es, als habe plötzlich jemand den Sound in der Halle abgedreht. Zur Pause führt Istanbul mit 53:35 und es hätte für Alba schlimmer kommen können.

Micic teilt das Meer

Im dritten Abschnitt fühlt man plötzlich mehr Energie bei Alba und die Fans spiegeln das. Aus einer Ecke hört man Trommeln knallen, man spürt, dass sich die Berliner Spieler nicht dermaßen lasch abfiedeln lassen wollen. Istanbul erhöht nach Gusto, zwischenzeitlich auf 21 Zähler Abstand, der wilde Micic teilt das Meer der Verteidiger mit seinen Dribblings in die Zone. Aber Alba wahrt zumindest seine Würde und mehr wird heute nichts zu erwarten sein, das ist längst klar.

In einem Moment steht Johannes Thiemann mit dem Ball auf Höhe der Freiwurflinie, er würde jetzt gerne passen, um ihn herum wirbelt ein Strudel aus Gelben und Blauen. Thiemanns weit aufgerissene Augen scheinen fragen zu wollen: "Was macht ihr da? Was habt ihr vor?". Vor dem letzten Viertel sind es noch 15 Zähler Rückstand.

Archivbild: Istanbuls Trainer Engin Ataman am 10.01.20 beim Euroleague-Auswärtsspiel gegen den FC Barcelona in Spanien (Quelle: imago images / Quique Garcia).
Istanbuls Trainer Ergin AtamanBild: www.imago-images.de

Pures Pick'n'Roll

Die letzten zehn Minuten laufen, da checkt Vasilije Micic, dass ihn der lahmere Sikma verteidigt und verabschiedet sich im nächsten Moment zum Korb. Beim nächsten Mal lockt er zwei Verteidiger und sein Pass findet die Laternenarme des Tibor Pleiß, zum wievielten Mal? Er weiß, dass er entweder selber ziehen oder das Ding einfach in die Zone schmeißen kann. Es ist ein unendlich einfach wirkendes Rezept, ein Pick’n’Roll der reinsten Sorte, klappt auf jedem Freiplatz. Aber was wollen sie auch dagegen machen? Pleiß kriegt die Pfiffe und er macht alle seine Freiwürfe, tippt Ringroller ins Netz.

Der freundliche Lulatsch verlangt seinen Respekt

Sicher, das alte Basketballer-Sprichwort "Du kannst Größe nicht lehren" gilt auch für Tibor Pleiß. Aber nur mit besagter Lulatschigkeit ist Pleiß nicht einer der erfolgreichsten deutschen Basketballprofis der vergangenen 20 Jahre geworden. Er spielt seine neunte Euroleague-Saison, hat unter anderem zwölf NBA-Spiele auf dem Buckel, ein Veteran in der Diaspora. Pleiß verfügt immer noch über das Gesicht eines Teenagers, aber er wird bald 31 Jahre alt und trägt Bandagen um Knie und unteren Rücken.

Weil er freundlich, vergleichsweise dünn und so langsam ist, wie seine Länge es erzwingt, hat er bei manchen bis heute das Image eines Weichlings. Aber er hat sich in Europa bei fast all seinen Klubs durchgesetzt und in seiner Karriere Millionen verdient. Pleiß versucht in Interviews deshalb nicht zu verbergen, dass er aus seiner Sicht mehr Respekt verdient hätte. "Für mich ist Tibor einer der besten Center in Europa“, hat sein Trainer Ergin Ataman vor kurzem dem Deutschlandfunk gesagt. Er hat so lange Arme, dass er die Würfe seiner Gegner nicht mal blocken muss. Sie verändern unbewusst ihre Flugkurve, eingeschüchtert von Pleiß' Gräten. So schafft er es in ihre Köpfe.

Die Berliner Fans sind nochmal bisschen trotzig, nach einer Fehlentscheidung der Schiris ist ihr Zorn zurück, der Spielstand interessiert jetzt nur noch wenig. 16 Zähler Rückstand bei nicht mal mehr fünf Minuten, geschenkt. Nicht mal Albas Prädikatsschütze Marcus Eriksson trifft jetzt noch, zwei Versuche aus seinem natürlichen Habitat fernab des Korbes verschludert er hintereinander, untypisch.

"Du hast das Gefühl, du bewegst dich in einem leeren Raum"

Eineinhalb Minuten vor dem Ende macht Tibor Pleiß Feierabend, nimmt den Mundschutz raus, schnappt sich das Frottee und schnauft. Er hat 23 Punkte auf dem Zettel, mehr als jeder andere [euroleague.net]. Wenige Sekunden später folgt ihm Micic. "Hat Spaß gemacht heute", erzählt der Center später auf dem Weg in die Kabine. Er habe es genossen, dass überhaupt Fans in der Halle waren, im Moment in der Türkei nicht denkbar.

"Wenn du sonst das Quietschen der Schuhe hörst, das Dribbeln des Balles, dann hast du das Gefühl, du bewegst dich in einem leeren Raum. Du musst dich dann härter selbst pushen", sagt Pleiß, ein Gemütsmensch, der nicht so tut, als wäre er der coolste Hund in der Hütte. Auch wenn die Fans einen auspfeiffen, wenigstens hat man überhaupt eine Beziehung zu ihnen. "In der NBA-Blase, während der Playoffs, haben sie Klatschen vom Band eingespielt. Jetzt kann ich das verstehen", sagt Pleiß.

Mehrere Teams haben Covid-Fälle

Albas Akteure versuchen sich an Erklärungen und Empfehlungen, hart arbeiten, zusammenfinden, sich Erfolgserlebnisse erarbeiten, solche Dinge. Die überzeugendste Deutung des Abends aber lautet: Istanbul war verdammt gut und Berlin nicht bereit. Am Freitag müssen die Berliner bei ZSKA Moskau antreten, es folgen Vitoria, Mailand und Barcelona. Wenn alles normal läuft, gewinnt Alba kein einziges dieser Spiele, aber in dieser Situation geht es nur um den Lerneffekt. Wer weiß, wie es weitergeht und vor allem wie lange.

Die Infektionszahlen steigen in fast allen europäischen Ländern. St. Petersburg, Moskau, Kaunas, Barcelona und Villeurbanne haben oder hatten jeweils mehrere Infizierte in den eigenen Mannschaften, bereits jetzt fallen deshalb Spiele aus oder werden verschoben. Ein Profi des französischen Klubs Villeurbanne erfuhr erst beim Aufwärmen von seinem positiven Testergebnis - und durfte dann trotzdem 40 Sekunden spielen [lequipe.fr].

Auch beim Ankommen am Presseeingang der Berliner Arena hat sich die Situation geändert: Vergangene Woche durfte man als Berliner auf die Frage, ob man sich zuletzt in einem Hotspot befand, noch "Nein" ankreuzen. Am Dienstag nicht mehr. Die ehrlichsten Worte des Abends fand hinterher vielleicht Istanbuls Trainer Ataman: "Wir sind alle in einer seltsamen Lage. Es ist schwer, in jeder Situation fokussiert und konzentriert zu bleiben", gab der Coach zu. Von Spiel zu Spiel zu denken - in dieser Saison ist es zum ersten Mal keine Floskel.

Beitrag von Sebastian Schneider, rbb|24

1 Kommentar

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    Angenehm zu lesender Bericht, der aufzeigt, dass Basketball auch mit dem Kopf gespielt wird und übrigens auch so kommentiert werden kann, wie hier. Mit Grüßen aus Berlin:)

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