Interview | Sportphilosoph Gunter Gebauer - "Das Stadion ist momentan ein resonanzloser Raum"

So 01.11.20 | 09:37 Uhr
Hertha BSC im Olympiastadion beim Spiel gegen Frankfurt. (Quelle: imago images/Annegret Hilse)
Bild: imago images/Annegret Hilse

Die Ausnahmestellung des Fußballs in der Gesellschaft wird kontrovers diskutiert - auch in der Corona-Krise. Sportphilosoph Gunter Gebauer spricht im Interview über Geisterspiele, die Auswirkungen der Krise auf den Fußball und dessen Verantwortung.

rbb|24: Herr Gebauer, wie haben Sie die Entscheidung wahrgenommen, zwar zu Geisterspielen in der Bundesliga zurückzukehren, aber trotzdem weiterzuspielen?

Gunter Gebauer: Ich empfand das als erwartbar. Der Fußball ist in Deutschland politisch, ökonomisch und publizistisch sehr mächtig. Er wird extrem gut wahrgenommen - und darum kämpft er weiterhin. Der Fußball ist gut vernetzt. Ministerpräsidenten stehen beispielsweise hinter ihren Vereinen. Insofern habe ich damit gerechnet, dass es weitergehen würde. Ich war aber etwas überrascht, dass keine Zuschauer mehr zugelassen werden. Das war eine sehr strenge Entscheidung.

Überrascht, weil die Vereine so viele Anstrengungen unternommen haben?

Die meisten Vereine hatten gute Konzepte. Ich war zwar nicht im Stadion, aber auch im Fernsehen wurde das sehr deutlich gezeigt. Und wenn dann 300, 600 oder auch mal 1.000 Leute in großen Stadien sitzen, ist das ja kein Problem. Da saßen alle mit Abstand, hatten Masken auf und haben sich gesittet verhalten. Das ist auch kein Wunder, da ja keine riesenhafte Euphorie entsteht. Es ist eher eine kühle Atmosphäre in so leeren Stadien. Da ist es gar nicht möglich, dass man positiv "handgreiflich" wird und sich beispielsweise umarmt. Die einzige Gefahr ist beim Herausströmen der Fans. Aber die haben wir woanders auch. Von daher leuchtet mir die Entscheidung nicht unbedingt ein. Aber man muss auch sehen, dass dem Fußball sehr große Privilegien gewährt werden. Der Ligabetrieb in der 1. und 2. Bundesliga kann weitergehen. Der wird praktisch nicht eingeschränkt. Die Spiele werden im Fernsehen übertragen, wir können uns weiter darüber informieren.

Haben Sie das Gefühl, dass das Ausbleiben der Fans sich leistungsmindernd auswirkt?

Es ist ein anderes Event, das ist klar. Die Zeichen der Zuschauer fehlen und die Emotionen von den Rängen, die eine Mannschaft nach vorne peitschen, bleiben aus. Insbesondere, wenn es darum geht, den Anschluss herzustellen oder einen knappen Vorsprung zu verteidigen, kann man sehen, dass manche Mannschaften am Ende der Spiele teilweise zusammenbrechen. Da ist keine Zuschauer-Mauer mehr da, die das Team nach vorne schreit. Das Stadion ist dann ein resonanzloser Raum für die Spieler. Das ist meistens sogar so, dass ein Spieler, wenn er einen starken Schuss abgegeben hat, erwartungsvoll in die leeren Ränge blickt und auf den Beifall wartet. Ich glaube, dass ein Spieler so etwas braucht. Das reicht nicht, wenn die Mitspieler dann ein bisschen in die Hände klatschen.

Man hört jetzt als Fernsehzuschauer vieles, was auf dem Feld erzählt wird. Das gab es früher nicht. Reicht Ihnen das als Fußballfan auf der Couch oder fehlt Ihnen das Stadionerlebnis?

Mir fehlt eine ganze Menge. Fußball ist wie Theater, es gibt eine Wirkung zwischen Akteuren und Publikum, also in diesem Fall den Spielern und den Zuschauern. Dieses gemeinschaftliche, interaktive Geschehen, ist für mich als Sozialphilosoph außerordentlich spannend. Weil man sehen kann, wie Zuschauer ihre Spieler teilweise anbeten und Wunder von ihnen erwarten. Beispielsweise bei unmöglichen Freistoßsituationen. Und manchmal klappt es dann sogar. Das sind unglaublich interessante Szenen.

Es gab im Zuge der Pandemie die Diskussion, ob der Fußball eine ethische und moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft hat. Das betraf sowohl Transfer-Ablösen als auch Gehälter. Der Tenor war: Es muss sich etwas ändern.

Erstmal hat man gesehen, dass die Gehälter und Ablösen gesunken sind. Auch die TV-Einnahmen sind runtergegangen. Die Kader sollen möglichst billiger werden müssen. "Billiger" ist in diesem Fall ein Euphemismus - sie sollen weniger kosten. Es soll kostengünstiger trainiert und gereist werden. Ich denke, dass auch die wohlhabenderen Klubs daran denken müssen, dass das, was früher als Gefahrenzeichen an die Wand gemalt wurde, immer stärker wird. Im Frühjahr haben viele nicht geglaubt, dass das eine heikle Situation wird. Die dachten, das ist dann irgendwann wieder vorbei. Aber wir haben jetzt schon den zweiten, hoffentlich etwas kürzeren Lockdown. Aber das heißt ja nicht, dass es dabei bleibt. Das ist das Damoklesschwert, was über den Vereinen und dem Sport schwebt.

Im Diskurs darüber, was wie weitergehen darf, driftet die Gesellschaft momentan etwas auseinander...

Ich kann jeden verstehen, der fragt: "Wo bleibt eigentlich die Kultur? Wo sind die Theater? Warum ist es unmöglich, Konzerte zu besuchen?" Mit richtigen Konzepten sind die Kulturveranstaltungen teils viel sicherer als Fußballspiele. Daran kann man jedoch sehen, wer die Lobby hat und wie die Macht in Deutschland verteilt ist. Die ist beim Fußball eben viel größer. Der Fußball hat eine Medien- und Politikmacht. Und es ist natürlich auch eine finanzielle Macht. Auf Seiten der Entscheider herrscht ein gewisser Populismus.

Im Fußballstadion herrscht eine ausgeprägte soziale Durchmischung. Wie viel geht da ohne Stadionbesuch momentan verloren?

Alle, egal aus welchem Bereich in der Gesellschaft, haben ein gemeinsames Thema: Fußball. Aber es ist nicht nur ein Gesprächs-, sondern auch ein Sympathiethema. Das führt eben dazu, dass man sich wunderbar mit Menschen unterhalten kann, mit denen man wohl sonst nie ein Wort wechseln würde, wenn es nicht gerade im Stadion wäre. Ich liebe diese Atmosphäre. Und das fehlt.

Das Interview führte Torsten Michels, rbb Sport.

 

Sendung: rbb24, 31.10.2020, 21:45 Uhr

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