Kanuten starten in ungewisse Olympia-Saison - Letzte Ausfahrt Türkei

Mo 30.11.20 | 14:20 Uhr
Ronald Rauhe (imago images)
Video: ARD Mittagsmagazin | 26.11.2020 | Jonas Schützeberg | Bild: imago images

Sie sind die erfolgreichsten deutschen Sportler bei Olympischen Spielen und das wollen die Kanuten auch bleiben. In der Türkei sucht die Kanu-Nationalmannschaft nach der Olympia-Form: vier Mal am Tag und zur Hochzeit der Corona-Pandemie. Von Jonas Schützeberg

Die Rollläden sind heruntergelassen. Wo sich sonst dicht gedrängt belegte Brötchen aneinander quetschen, bleibt der Platz hinter den Plexiglasscheiben der Cafés und Shops frei. Mitte November ist das Terminal 5 am neuen Flughafen BER leer, es gleicht einer Festung aus Aluminium und Stahl, alles grau in grau. Nur vier Flüge gehen an diesem Tag.

Eine rote Jacke sticht heraus, auf dem Rücken steht in gelben Buchstaben "Deutschland". Es ist die Jacke von Ronald Rauhe. Der Potsdamer Kanu-Olympiasieger von 2004 reist mit der Nationalmannschaft ins Trainingslager, so wie jedes Jahr im November, um sich auf die neue Saison vorzubereiten. Eigentlich bedeutet das: Palmen, Delfine und Pelikane. Vor allem aber auch viel Schweiß und harte Arbeit am Indian Harbour Beach in Florida, doch die Corona-Pandemie hat andere Pläne.

"Da ist der Körper völlig ausgelaugt"

Zu dieser Jahreszeit brauchen die Kanuten vor allem große Umfänge auf dem Wasser, da sie an ihrer Ausdauer feilen wollen. "Das ist zu Hause in Deutschland bei 5 Grad einfach nicht möglich. Der Körper ist nach der ersten Einheit schon völlig ausgelaugt, wegen der Kälte. Wir müssen aber drei bis vier Mal am Tag paddeln, mit hoher Qualität, wenn wir erfolgreich sein wollen", erklärt Rauhe.

Fast alles hat der Verband probiert. Die Bundestrainer haben sich Trainingslagerorte in Australien und Neuseeland angeschaut. Spanien, Frankreich, und Italien standen auf der Liste, sogar Abu Dhabi war mal im Gespräch, doch alles ist corona-technisch gescheitert. Eine der wenigen Möglichkeiten, um so zu trainieren, wie die Kanuten es brauchen, bietet aktuell die Türkei.

"Es ist komisch nach so langer Zeit überhaupt mal wieder zu fliegen. Der leere Flughafen ist schon wirklich befremdlich", sagt Rauhe etwas skeptisch und versteht kritische Nachfragen."Ich gebe zu, ich habe viel nachgedacht, auch wegen der politischen Situation in der Türkei. Aber es ist kein Urlaubsziel, sondern eine berufliche Reise und deswegen kann ich mich damit arrangieren."

 

kanu türkei (rbb)
| Bild: rbb

Halbe Nationalmannschaft kommt aus Berlin und Brandenburg

2.200 Kilometer sind sie extra in die Wärme gereist - doch bei Ankunft in Belek ist es regnerisch und kälter als erhofft. Die Kanuten trainieren trotzdem, denn der Sport ist ihr Beruf. Die meisten arbeiten als Sportsoldaten oder bei der Bundespolizei. Auf der Wiese vor dem Hotel steht ein Bootshänger voller Leihboote. Ein Transport aus Deutschland wäre ein immenser logistischer und finanzieller Aufwand. Ersatzteile, wie Stemmbretter oder Knieschalen, haben sie aber von zu Hause mitgenommen.

Wer drei Wochen lang optimal trainieren will, muss alles haargenau individuell einstellen. "Deshalb muss ich mein Stemmbrett und meinen Sitz auf die Länge bringen, dass ich den optimalen Winkel in meinen Beinen habe, um auch ordentlich zu arbeiten. Wir paddeln nämlich nicht nur aus den Armen", erklärt Jacob Schopf, während er im Boot sitzend mit dem Oberkörper rotiert. Der gebürtige Berliner und Weltmeister von 2019 ist der Shootingstar der Mannschaft und gilt als eines der größten Talente weltweit.

Schopf gehört zu einem starken Team. Mehr als 30 Athleten der Nationalmannschaft, gut die Hälfte kommt aus Berlin und Brandenburg, paddeln gemeinsam in der Türkei, ein weiterer Vorteil des Trainingslagers. "Wir können uns gegenseitig hochpushen. Die Besten aus Deutschland sind hier zusammen, da geht jeder an seine Grenzen", sagt der 21-Jährige vom Kanu-Club Potsdam, "wir treiben uns gegenseitig an. Das ist wie in der Uni, wenn man eine Klausur schreibt. Man lernt zwar das ganze Jahr, wenn man aber kurz vor der Klausur steht, dann schaut man sich den Hefter nochmal viel intensiver an."

Eigene Corona-Blase im Hotel

Die Kanuten haben sich eine nahezu perfekte Blase geschaffen. Vor Abflug wurden alle Athleten auf Corona getestet. Im Hotel haben sie eine eigene Etage für sich allein, auch während des Trainingslagers werden die Sportler und Trainer einmal pro Woche getestet. Niemand darf die Hotelanlage innerhalb der drei Wochen verlassen. Im Restaurant sperren Schilder die hintere Ecke ab, darauf ist die deutsche Flagge gemalt, "Kanu-Nationalmannschaft" lautet der Text. Überall auf der riesigen Anlage sollen die Athleten eine Gesichtsmaske tragen.

Mit anderen Hotelgästen kommen die Kanuten kaum in Kontakt, das Hotel wirkt wie ausgestorben. Ronald Rauhe ist zuversichtlich, dass sie das Trainingslager bis zum geplanten Ende am 09. Dezember durchziehen können: "Wir haben hier viel weniger Kontakte als zu Hause, obwohl wir so eine große Gruppe sind. Ich fühle mich relativ sicher, so sicher wie man sich in der aktuellen Zeit halt fühlen kann."

"Es ist unfassbar wichtig, dass es endlich wieder losgeht"

Nach den ersten Tagen mit schlechtem Wetter zeigt sich dann auch die erhoffte Sonne. Die Bedingungen sind fast perfekt. Die Kanuten paddeln auf einem Fluss, unweit vom Meer. Dort sind sie ungestört. Sie haben eine eigene medizinische Abteilung dabei, kontrollieren die Trainingsdaten wissenschaftlich alle paar Tage, zum Beispiel über Messwerte im Blut oder Pulswerte der Sportler.

"Wir haben ein Jahr ohne Ziele hinter uns. Es ist unfassbar wichtig, dass es jetzt wieder losgeht. Zu dieser Jahreszeit gehört ein Warmwasserlehrgang ins Pflichtprogramm, sonst schaffen wir die Umfänge nicht und uns fehlt die Basis", erklärt Bundestrainer Arndt Hanisch, "würden wir erst im neuen Jahr einsteigen, würde es ganz schwierig werden. Wir wollen in Tokio nicht einfach nur dabei sein, sondern wir wollen wieder Medaillen gewinnen." Am Ende werden sie auch nach der Anzahl der Olympischen Medaillen abgerechnet, daran hängen wichtige Fördergelder für die kommenden Jahre.

Abgeschottet in einer Touristenhochburg

Am freien Nachmittag sitzen Rauhe und Schopf mit den Paddelkollegen in einer kleinen Reetdachhütte mit weißen Sitzpolstern. Wie eine Armee stehen diese Häuschen nebeneinander am Strand, exakt platziert in mehreren Reihen. Das Ende ist ohne Fernglas nicht zu erkennen. Was man aber auch in der Ferne noch erahnen kann: Alle sind leer, bis auf eine.

"Wir können uns auch mal aus dem Weg gehen und abschalten", sagt der 16-malige Weltmeister Rauhe mit einem Lächeln, "wir sind extrem dankbar, dass wir hier trainieren dürfen und wissen es zu schätzen, dass es uns aktuell wirklich gut geht, im Vergleich zu anderen."

Die Kanuten bleiben also abgeschottet und allein, wo sich vor der Corona-Zeit noch bis zu 1.000 Hotelgäste täglich tummelten. Ob sie der Trainingszyklus bis zu den Olympischen Spielen im August 2021 bringt, ist unklar, die erste Voraussetzung für einen erfolgreich Abschluss bei Olympia haben sie allerdings in der Türkei geschaffen.

Sendung: rbb UM6, 30.11.2020, 18:15 Uhr

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