Interview | Sportsoziologe Gunter Gebauer - "Das ist maßlos, was da passiert"

Klub-WM, Champions-League-Spiele - und das alles trotz Corona. Der internationale Spielbetrieb hat die Debatte über Sonderrechte des Profi-Fußballs neu entfacht. Zurecht, meint Sportsoziologe Gunter Gebauer.
Ob Länderspiele oder internationale Wettbewerbe - der Profi-Fußball reist weiter durch die Welt, obwohl gerade eine globale Pandemie-Situation herrscht. Der FC Bayern spielte in der vergangenen Woche den Weltpokal in Katar aus, in dieser Woche finden mehrere Partien der europäischen Champions League nicht am ursprünglich geplanten Ort statt, sondern in Ländern mit lockereren Corona-Regeln. Der deutsche Vertreter RB Leipzig trifft sich beispielsweise für sein "Heimspiel" mit dem FC Liverpool in Budapest anstatt in Leipzig. Der Grund: Der englische Meister hätte nicht nach Deutschland einreisen dürfen, weil England ein Corona-Mutationsgebiet ist. Es geht einmal mehr darum, ob der Profi-Fußball eine Sonderrolle genießt.
rbb|24: Herr Gebauer, "the show must go on", dieses Motto aus der Unterhaltungsindustrie gilt derzeit vor allem für den Sport - und insbesondere für den Profi-Fußball. Finden Sie, dass der Profi-Fußball das Maß verloren hat?
Gunter Gebauer: Ja, das kann man in letzter Zeit besonders deutlich erkennen. Das hat sich schon vorbereitet, als es der deutschen Fußball-Liga gelang, sogenannte Geisterspiele einzurichten (im Mai 2020, Anm.d.Red.) die es ermöglichten, dass die Profi-Fußball-Vereine weiterspielen und Geld verdienen konnten. Das war sehr geschickt gemacht von der Deutschen Fußball Liga. Das hat sich auch in gewisser Hinsicht ganz gut bewährt, insofern, dass da wenige Fälle aufgetreten sind.
Aber jetzt sehen wir immer öfter, das Spieler infiziert werden und der Spielbetrieb ausufert. Zu Beginn war es ja ein Spielbetrieb, der erstmal nur in Deutschland stattfand. Jetzt geht die Vielfliegerei los und wir haben ja am Horizont auch die Europameisterschaft im Fußball, die in vielen Ländern stattfinden soll. Also das ist dann maßlos, was da passiert.
Das Gegenargument, das auch Bayern-Trainer Hansi Flick vorbringt, lautet: Das ist unser Job, wir machen eine Dienstreise und das nicht zum Vergnügen. Zählt das Argument für Sie?
Nein, das zählt für mich nicht. Das wäre ja auch noch schöner, wenn das ein Vergnügen wäre. Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle Leute, die sich zum Beispiel nicht weiter von ihrem Wohnort entfernen dürfen als 15 Kilometer unter den strengen Auflagen, an die wir uns alle halten müssen. Wir können auch ein bisschen durch die Gegend fahren, aber nur aus strikten Gründen, familiären und beruflichen. Natürlich ist auch das beruflich, was die Fußballer machen. Aber es geht weit über das hinaus, was man akzeptieren kann, finde ich. Die fliegen nach Ungarn, also in Länder die lockerere Bedingungen haben als wir, weil man da eben gegen Engländer Fußball spielen kann, da trifft man sich dann auf der Wiese. Das bedeutet, der Fußball schneidert sich wirklich eigene Regelungen, schlägt sie der Politik vor und die muss abnicken. Sie könnte anders, aber sie traut sich nicht.
In diesem Zusammenhang: Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge schlägt vor, Fußballer vorrangig zu impfen, der Vorbildfunktion wegen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Das ist einfach nur vorgeschoben. Das ist mal wieder ein typischer Rummenigge, den kennen wir ja nun von seinen Sprüchen, der seine blanke Unverschämtheit mit irgendwelchen altruistischen Motiven überdeckt. Es geht natürlich darum, eine Extrawurst zu bekommen. Dann müssten wir ja auch unsere ganzen Olympiasportler und alpinen Sportler und so weiter impfen lassen, damit sie Medaillen für Deutschland holen. Also ich glaube, das ist total an den Haaren herbeigezogen und das müsste den Fußballern - und das kann man ja auch teilweise an den Reaktionen erkennen - ein bisschen peinlich sein.
Das heißt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dass Sie auch gegen ein Impfen der deutschen Olympiasportler sind?
Gegen eine Bevorzugung der Olympiasportler gegenüber der allgemeinen Bevölkerung und gegenüber den Risikogruppen. Wir sind jetzt beim Impfen gerade bei den größten Risikogruppen, erst kommen die 90-Jährigen dran, dann die 80-Jährigen und dann die über 75-Jährigen. Also ich sehe nicht, dass unbedingt jetzt besonders gesunde und leistungsfähige Sportler irgendeine Priorität bekommen sollten. Das hat im übrigen ja auch der deutsche Ethikrat ganz klar festgelegt.
Sie haben zu Beginn der Pandemie auch Prognosen über die Auswirkungen von Corona auf die sportlichen Aktivitäten der Menschen aufgestellt. Damals sagten sie, der Individualsport werde der große Krisen-Gewinner sein. Ist das aus Ihrer Sicht eingetreten?
Ich denke schon. Man muss das aber auch genau sehen, welchen Individualsport man da erkennen kann. Es sind Leute, die jetzt nicht mehr ins Fitnessstudio gehen, die nicht im Vereinssport tätig sind und auch sonst keinen leistungsorientierten Sport treiben können, weil die Möglichkeiten gar nicht mehr gegeben sind. Da sehe ich sehr viele Leute, die sich individuell bewegen. In den Parks in Berlin sieht man sehr, sehr viele Freizeitsportler. Auch ehemalige Leistungssportler und Leute, die jetzt noch auf Leistung trainieren, die dann ihr Training in die öffentlichen Anlagen verlegen. Es gibt außerdem viele Leute, die Home-Sports machen. Da gibt es einen großen Krisengewinner mit den Geräten für den Heimsport, die man sich anschaffen kann, die ja auch teilweise ganz faszinierend sind. Ich glaube, die Bewegungslust ist noch da und ist vielleicht sogar noch stärker als zuvor, weil man sich ja doch recht stark eingesperrt fühlt.
Zur Not turnt man eben nach, was die virtuellen Trainerinnen und Trainern vor einem am Bildschirm machen. Teilweise kaufen die Leute auch teure Home-Trainer, die dann vielleicht auch nach der Pandemie weiter genutzt werden. Bleibt es also womöglich auch in Zukunft bei dieser Digitalisierung des Sports?
Klar, wer sich ein teures Gerät angeschafft hat, der will es natürlich auch weiter nutzen. Das ist aber keine Digitalisierung, wie man zum Beispiel den Fußball gerade digitalisiert, dass man also nur noch mit dem Finger spielt, sondern da bewegt man sich ja noch wirklich. Man hat eben nur eine digitale Trainerin/einen digitalen Trainer, die oder der einen anfeuert oder selbst auf dem Rennrad sitzt, zum Beispiel. Das ist ja teilweise auch ganz gut gemacht und mag auch Freude auslösen. Aber ich glaube, sobald man wieder raus kann und dann auch die bessere Jahreszeit kommt, dann gehen die meisten doch wieder raus, anstatt zu Hause zu Rudern und zu Radeln.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Thomas Hollmann aus der Sportredaktion. Dieser Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung, das vollständige Gespräch können Sie oben im Beitrag hören.