Recherche von ARD-Kontraste - Eltern beklagen unzureichende Betreuung in Nachwuchszentrum von Union Berlin

Mit dem Versprechen einer Profi-Karriere locken die Nachwuchsleistungszentren der Bundesligavereine junge Talente an. Doch Eltern von Kickern des 1. FC Union beklagen, dass der Verein sich nicht um ihre Kinder gekümmert habe. Von Christian Humbs, Daniel Laufer, Laurenz Schreiner, Efthymis Angeloudis
Tore schießen wie Taiwo Awoniyi, lange Pässe schlagen wie Max Kruse oder reingrätschen wie Christopher Trimmel - viele Kinder haben den Traum, so zu werden wie ihre großen Fußballidole beim 1. FC Union. Doch auf dem Weg dahin erwartet die Fußballprofis von morgen ein oft steiniger Weg. Denn in den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der Bundesligavereine kann der Traum vom Profifußball zum Albtraum werden - das Versprechen von betreutem und altersgerechtem Wohnen platzen.
Auf den langen Weg zum Profifußball machte sich auch Paul*, der 2018 als Zwölfjähriger beim Nachwuchs von Union Berlin anfing und dafür aus Brandenburg in eine WG in den Berliner Osten zog. Der Verein war laut einem Vertrag, den Pauls Eltern mit Union unterschrieben hatten, für seine Unterbringung zuständig. Doch die Unterkunft soll nur eine Notlösung sein: Ein neues Gebäude für die Kinder- und Jugendabteilung muss erst noch gebaut werden. Trotzdem ziehen schon im Jahr darauf zwei weitere Zwölfjährige ein, darunter Felix*.
Nachwuchsleistungszentren – kein Ort für Kinder?
Über das, was Paul und Felix bei Union erlebt haben sollen, gehen die Erzählungen auseinander. Ihre Eltern sagen heute, die Betreuung in der Wohnung sei zeitweise "katastrophal" gewesen. Ihnen wurde Rundumbetreuung vor Ort, Essen, Trinken und Nachhilfe versprochen. "Das sich alles anders entwickelt hat, war enttäuschend", sagt Pauls Mutter.
Der Verein bezeichnet das als "unglaubwürdig" – die Eltern hätten sich nie negativ geäußert, vielmehr habe es positive Rückmeldungen gegeben. Es erschließe sich dem 1. FC Union Berlin nicht, dass jemand sein Kind über Jahre in "katastrophalen" Umständen wohnen lassen würde, ohne einzugreifen.
Richtig ist, dass Paul und Felix Union im Sommer nach mehreren Jahren verlassen haben. Doch Recherchen des ARD-Politikmagazins Kontraste und von Ippen Investigativ wecken Zweifel daran, dass der Klub seiner Verantwortung für die Kinder immer gerecht geworden ist.
Betreuer: Wohnung war vorübergehend gedacht
Aus einem Unterbringungsvertrag geht hervor, dass der Verein Eltern versichert hatte, die Kinder von Sonntag bis Freitag zu betreuen. Zuständig dafür war ein Sportpsychologe Mitte 20, der ebenfalls in der WG lebte. Häufig sei dieser allerdings nicht da gewesen, sagt Paul. "Vor allen Dingen nicht nachts, manchmal hatte ich ein bisschen Angst."
Auch der Vater von Felix gibt an, die Kinder seien oft allein gewesen. Vertraglich geregelt war auch eine sportgerechte Grundversorgung der Nachwuchsspieler. Felix' Vater sagt, sein Sohn habe ihn schon kurz nach dem Einzug angerufen und gefragt, wie ein Wasserkocher funktioniere, um Fünf-Minuten-Terrine aufzuwärmen. Den Eltern zufolge hätten in der WG oft Lebensmittel gefehlt. Der Verein widerspricht: Die Kinder seien betreut worden und die Versorgung sei zu jeder Zeit sichergestellt gewesen.
Mit den Vorwürfen konfrontiert, reagiert der Betreuer überrascht. Man habe sich bemüht, die Unterbringungssituation zu verbessern. "Aus meiner Perspektive war die Wohnung nur vorübergehend gedacht." Zunächst hätten vor allem ältere Nachwuchsspieler in der WG gelebt, erst später seien auch jüngere eingezogen. An diesem Punkt habe der Verein gemerkt, dass die Form der Betreuung "nicht altersgerecht" sei, sagt der Betreuer.
Der Verein stellte zur Betreuung eine weitere Person ein, die zweimal pro Woche kam – an den Tagen, an denen der Betreuer nach eigenen Angaben abends weg war. Im Großen änderte sich die Situation für die Jugendlichen offenbar erst, als der Verein im Sommer 2020 neue Räume anmietete.
Unfall auf Auswärtsfahrt
Die deutliche Kritik an Union Berlin hängt womöglich auch mit einem Vorfall zusammen, der das Vertrauen von Eltern in den Verein erschüttert zu haben scheint. Auf dem Rückweg von einer Auswärtsfahrt im Sommer 2020 verlor ein Bereichsleiter des NLZ offenbar die Kontrolle über einen Kleinbus mit Jugendspielern und fuhr gegen eine Leitplanke. Wohl nur durch Glück wurde niemand verletzt.
Erst spät informierte der Verein die Eltern. In einer WhatsApp-Nachricht vom Nachmittag des Folgetags schilderte ein Mitarbeiter knapp, dass es einen Unfall gegeben habe. Der Vater nennt die Kommunikation im Interview eine "Frechheit". Der Verein teilt dazu auf Anfrage mit, der Schaden sei erst bei Tageslicht erkennbar gewesen. Intern hielt er den Vorgang jedoch offenbar für so problematisch, dass er dem Unfallverursacher ein Fahrverbot erteilte.
Nicht ausgezahlte Prämie
Für Ärger sorgte auch ein Vertrag, den Union Berlin mit dem damals zwölfjährigen Felix abgeschlossen hatte – eine sogenannte Nachwuchsfördervereinbarung. Der Verein verpflichtete sich, über einen Zeitraum von drei Jahren insgesamt 3.000 Euro auf ein Sparkonto einzuzahlen. Ausbezahlen wollte er das Geld aber nur, wenn der Spieler am Ende einen Fördervertrag unterzeichnete. Doch den bot Union Berlin Felix gar nicht an. Sein Vater spricht von einer "Schweinerei".
Union Berlin verteidigt die Praxis. Es handele sich um "ein vereinsseitiges Angebot ohne daraus resultierende Verpflichtungen oder Bindungen für Eltern oder Spieler".
Ein Leiter eines Nachwuchsleistungszentrums eines anderen Bundesligavereins bezeichnet die Vereinbarung gegenüber Kontraste und Ippen Investigativ als "unseriös" und "höchst bedenklich". Ein solches Dokument habe er trotz langjähriger Erfahrung im Jugendfußball noch nie gesehen.
Eltern bereuen Entscheidung
Im Nachwuchs der Bundesligisten reicht es trotzdem am Ende nur für die Allerwenigsten. Union Berlin übernimmt nach eigenen Angaben pro Jahr ein bis zwei Spieler in seinen Profikader. Pauls Traum von der Fußballkarriere bei dem Hauptstadtklub ist geplatzt. Im Sommer ließ er das vereinseigene Internat und seine Freunde zurück, wechselte die Schule, zog zurück zu seinen Eltern nach Brandenburg. Diese zeigen inzwischen Reue. "Ich würde mein Kind nie wieder in diesem Alter in eine Wohngemeinschaft schicken." Es sei deutlich zu früh gewesen, ihren damals zwölfjährigen Sohn in dem NLZ unterzubingen.
Am Ende habe Paul sich gefühlt, als habe er komplett versagt. "Bis heute weiß ich nicht, warum ich rausgeflogen bin", sagt er. Der Verein schreibt dazu auf Anfrage, Pauls und Felix' Leistung habe stagniert. Folglich habe man den beiden frühzeitig mitgeteilt, dass sie die "Weiterführungskriterien" nicht erfüllten.
*Name von Redaktion geändert
Sendung: ARD, Kontraste, 25.11.2021, 21:45 Uhr