Analyse | Remis gegen Augsburg - Hertha verliert vor spätem Ausgleich die Nerven
In einer turbulenten Nachspielzeit verschenkt Hertha BSC einen sicher geglaubten Sieg. Diskussionen über den Schiedsrichter sollten nicht über die Fehler der Mannschaft hinwegtäuschen. In den 90 Minuten zuvor zeigte Hertha spielerisch gute Ansätze. Von Till Oppermann
Wenn eine Rudelbildung zur Schlüsselszene eines Bundesligaspiels wird, verheißt das selten Gutes für das sportliche Niveau der Partie. Dabei war Hertha BSCs Heimspiel gegen den FC Augsburg eine unterhaltsame Begegnung mit insgesamt 30 Torschüssen zweier Mannschaften, die über die gesamte Spielzeit versuchten, offensive Akzente zu setzen.
Die knapp unter 15.000 Herthaner, die trotz Eisregen und der Berliner Novemberkälte den Weg ins Olympiastadion gefunden hatten, durften lange auf einen Sieg ihrer Mannschaft hoffen. Bis zur 97. Minute: Dann köpfte der eingewechselte Michael Gregoritsch den Ausgleich für seine Augsburger – obwohl das Team um Schiedsrichter Frank Willenborg die Nachspielzeit ursprünglich auf vier Minuten angesetzt hatte. Co-Trainer Zecke Neuendorf regte sich darüber so unflätig auf, dass er eine rote Karte kassierte. Sein Chef Pal Dardai reagierte gelassener. Als ein Sky-Reporter ihm direkt nach Abpfiff Kritik an Willenborg entlocken wollte, sagte er: "Nein, ich rede da nicht rein."
Am Ende verliert Hertha die Nerven
Daran sollten sich seine Spieler in Zukunft ein Beispiel nehmen, denn sie allein verschuldeten die verlängerte Nachspielzeit. Als sich die Herthaner in der 94. Minute, also Sekunden vor Ablauf der ursprünglichen Zusatzzeit, einen Eckball erkämpft hatten, sah alles danach aus, als wäre Hertha am Ziel. Wie in solchen Situationen üblich, führten die Berliner die Ecke kurz aus. Die Mannschaft blieb tief gestaffelt in ihrer Ordnung. Der robuste Stürmer Davie Selke schirmte den Ball gegen die Augsburger ab, um weitere Sekunden von der Uhr zu nehmen. Im Gerangel um die Kugel fiel er zu Boden. Schiedsrichter Willenborg entschied auf Freistoß für die Augsburger. Das war durchaus diskutabel, gleichzeitig aber auch eine der berühmten 50-50-Entscheidungen in der Zweikampfbewertung, von denen es pro Spiel mindestens ein Dutzend gibt.
Zumal Selke sich zuerst reichlich theatralisch am Boden wälzte, dann plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufsprang, um sich schließlich brüllend mit den Augsburgern zu rangeln. Was allerdings seine Mitspieler dazu bewegte, in Scharen in die gegnerische Hälfte zu rennen, sich am Geschubse an der Eckfahne zu beteiligen, bleibt fraglich. Schließlich waren sie vor der Ecke extra in ihrer eigenen Hälfte geblieben, um die Ordnung zu halten. Die Scharmützel rund um Willenborg dauerten mehrere Minuten und der Schiedsrichter entschied sich, die gesamte Zeit nachspielen zu lassen. Und so kam es, wie es kommen musste: Die schlecht gestaffelten Herthaner bekamen nach einem schlecht geklärten langen Ball mit der letzten Aktion des Spiels den Ausgleich. Wie konnte das passieren, Herr Dardai? "Erstmal ist schiefgelaufen, dass wir zu lange diskutiert haben", so der Hertha-Trainer. Danach sei seine Mannschaft aus dem Konzept gewesen und nur noch hinterhergelaufen. "Wir müssen bis zum letzten Pfiff verteidigen."
Spielerisch machte Herthas Auftritt Mut
Für den Trainer ist dieser Ausgang besonders bitter. Nachdem er nach der Pleite im Stadtderby für seinen nicht erkennbaren Matchplan noch hart kritisiert wurde, hatte Dardai sich für das Spiel gegen Augsburg einiges überlegt. Um Sechser Santiago Ascasibar im Spielaufbau zu entlasten, wurde die Viererkette aus Marvin Plattenhardt, Jordan Torunarigha, Niklas Stark und Peter Pekarik im eigenen Ballbesitz zu einer Dreierkette, in die Plattenhardt als halblinker Innenverteidiger einrückte, während Rechtsverteidiger Pekarik weit in die gegnerische Hälfte schob. So gelang es Hertha, deutlich mehr Breite ins Spiel zu bringen - denn insbesondere Stark postierte sich weit außen und leitete mit langen Pässen entlang der Seitenlinie immer wieder gute Angriffe ein. "In der ersten Halbzeit hatten wir zwei hundertprozentige Chancen nach eigenem Ballbesitz", lobte Dardai.
Er spielte damit auf Ishak Belfodil an. Der neue Stürmer schuf mit starken Tiefenläufen immer wieder Anspielstationen für seine Kollegen im Mittelfeld und tauchte im ersten Durchgang gleich zweimal frei vor Augsburgs Rafal Gikiewicz auf, der seine Chancen jeweils vereitelte. Zwar war Herthas Führung durch Marco Richter kein Produkt des besseren Offensivspiels. Aber dass er dem Augsburger Gumny den Ball stibitzte und zum 1:0 einschob, kann auch als Reaktion auf die Niederlage gegen Union gewertet werden, nach der Dardai noch über die fehlende Spritzigkeit und Zweikampflust seines Teams geklagt hatte. "Die erste Halbzeit war ausgeglichen, in der zweiten Halbzeit waren wir die bessere Mannschaft", kommentierte Dardai nach dem Spiel gegen Augsburg. Das lag auch daran, dass Hertha - anders als im letzten Heimspiel gegen Leverkusen - in Führung weiter konstruktiv nach vorne spielte anstatt zu mauern. Nach zahlreichen Chancen erzielten die Berliner sogar zwei Abseitstore, aber leider reichte der ganze Aufwand nicht für das erlösende 2:0. Deshalb haderte Dardai: "Man muss das zweite Tor machen, dann müssen wir auch nicht diskutieren, wegen der 96 Minuten."
Marco Richter war selbstkritisch
Dass sich die Diskussionen nach dem Spiel doch vor allem um die lange Nachspielzeit drehen, liegt wohl in der Natur der Sache. Die Hertha-Spieler täten trotzdem gut daran, sich die Szenen vor dem Ausgleich nochmal genauer anzusehen. Denn in den Minuten nach der Rudelbildung schienen sie den Spielstand völlig vergessen zu haben. Kurz vor dem Gegentor hatten fünf eher konfus formierte Herthaner die Gefahr eigentlich bereits gebannt. Ihr Befreiungsschlag hätte den Mitspielern Zeit gegeben, sich in Verteidigungshaltung zu postieren. Stattdessen rannten gleich mehrere Herthaner nach vorne, als hätte der Alten Dame ein Tor gefehlt. Torschütze Marco Richter gab einen Einblick in die Gefühlswelt der Berliner: "Wir sind bedient. Das darf uns nicht passieren."
Sendung: rbb24, 27.11.2021, 21:45 Uhr