Interview | Annika Schleu zu Olympia-Eklat - "Das bereue ich im Nachhinein extrem"
Wegen ihres umstrittenen Umgangs mit ihrem Pferd Saint Boy bei den Olympischen Spielen geriet die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu in die Kritik. Im Interview mit rbb|24 erzählt die 31-Jährige von der schwierigen Zeit nach Olympia.
rbb|24: Annika Schleu, gibt es Tage, an denen Sie nicht daran denken, was am 6. August letzten Jahres in Tokio passiert ist?
Inzwischen ja. Zum Glück. Irgendwie muss das Leben ja auch weitergehen. Es gibt auch so viel, was parallel weiterläuft, der Sport oder die Ausbildung. Aber es hat lange gedauert, viele Wochen und Monate danach gab es eigentlich keinen Tag, an dem ich nicht irgendwie daran gedacht habe oder daran erinnert wurde.
Haben Sie sich das Video des Ritts angeschaut?
Tatsächlich habe ich es bisher nicht übers Herz gebracht, es komplett zu sehen. Ich kenne auch viele andere Sportler und Trainingspartner, die mir gesagt haben, dass sie sich das nicht ganz ansehen. Aber mittlerweile habe ich so viele Ausschnitte gesehen, dass ich ein komplettes Bild habe.
Was heißt, dass Sie es nicht übers Herz gebracht haben? Haben Sie es angefangen und dann abgebrochen?
Nein, ich habe mir nie bewusst vorgenommen, es anzuschauen. So weit war ich bislang noch nicht.
Wie erinnern Sie sich an diese Momente, als Sie in Tränen aufgelöst auf dem Pferd saßen? Was haben Sie da möglicherweise falsch gemacht?
Ich erinnere mich so daran, dass es eine kurze Situation gab, in der ich noch ruhig war, weil die Erwärmung mit dem Pferd so gut lief, dass ich gar nicht damit gerechnet hatte, was später passierte. Als ich in das Stadion gekommen bin, mussten wir das Pferd reinführen. Das war für uns ungewöhnlich, denn normalerweise reiten wir rein. Dann bin ich auf das Pferd gestiegen und auch dabei war Saint Boy noch komplett ruhig. Ich habe ihm sogar ein bisschen abergläubisch auf die Schulter geklopft und gemeint: Wir schaffen das jetzt zusammen. Bis dahin war ich voller Zuversicht, weil alles so gut lief. Das Abblocken und Entziehen kamen dann komplett unerwartet, nachdem wir vorher so eine Bindung hatten. Da habe ich unter Druck die Fassung verloren und das bereue ich im Nachhinein extrem. Wenn ich das auf den Bildern sehe, denke ich: Hätte ich doch besser die Ruhe bewahrt. Dann hätte ich auch bessere Entscheidungen treffen können.
Sie haben direkt danach gesagt: 'Wir haben einmal kurz darüber nachgedacht, vom Pferd zu steigen, wollten den Traum vom Olympiasieg aber weiterleben.' Würden Sie das heute anders machen?
Das ist genau das, was ich meinte. Wenn ich besonnener und ruhiger gewesen wäre, hätte ich diese Situation besser einschätzen und auch besser den Zeitpunkt herausfinden können, an dem ich sage: 'Ok, das hat keinen Sinn mehr. Weder für das Pferd, noch für mich, noch für den Wettkampf und hier beende ich das.' Ich glaube, zu dieser Entscheidung wäre ich besser in der Lage gewesen, wenn die ganze Atmosphäre und ich selbst ruhiger gewesen wären.
Sie haben danach auch erzählt, dass Sie vor dem abschließenden Laser Run beim Blick auf Ihre Smart Watch gemerkt haben, dass viele Nachrichten kamen und etwas passiert. Sie haben die Uhr dann abgelegt und es zunächst zur Seite drängen können. Wann haben Sie gemerkt, welche Dimension dieses Thema annehmen würde?
Eigentlich schon in der Umkleide und das hat mir auch den Boden unter den Füßen weggerissen. Vorher dachte ich, dass es für mich und das Pferd eine schreckliche Situation war, aber begrenzt auf diesen Tag und diesen Moment. Als ich dann aber im Bus saß und spätestens, als ich wieder im olympischen Dorf ankam und es Meetings mit dem gesamten Team gab, hat mir jede schlechte Neuigkeit, jede Hassbotschaft und jede Morddrohung den Boden unter den Füßen weggezogen. Am schlimmsten war für mich aber, als Tierquälerin dargestellt zu werden. Das ist viel greifbarer als eine Morddrohung. Die ist weit weg und mir war schon klar, dass mir keiner etwas anhaben wird.
Wie sind Sie mit dem Vorwurf der Tierquälerei umgegangen?
Ich habe relativ zeitig versucht, dazu nicht so viel in den Medien zu lesen. Es war ja sowieso immer präsent, man kann es gar nicht abschalten. Mein Glück für meine Psyche und den weiteren Verlauf war, dass ich kurz danach für drei Wochen in den Urlaub gefahren bin und Abstand gewonnen habe.
Sie haben sich dann auch aus den sozialen Netzwerken verabschiedet. Ist das endgültig?
Eigentlich möchte ich gerne wieder zurück in die sozialen Netzwerke kommen. Für Sportler ist das ein wichtiger Teil, um sich zu präsentieren und darzustellen. Das macht man in einem gewissen Maße auch gerne. Aber das Verhältnis zwischen den sozialen Medien und mir ist auf alle Fälle schlechter geworden.
Gab es neben den virtuellen Anfeindungen auch Anfeindungen persönlicher und direkter Natur? Auf dem Weg zum Bäcker oder in der Bahn?
Gar nicht. Und das ist noch immer das Verrückte für mich. Ich habe mich an den ersten Tagen zurück in Deutschland noch etwas unwohl gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass mich jeder erkennt. Ich wurde auch ein-, zweimal angesprochen, aber fast immer mit Rückhalt. Manchmal habe ich tatsächlich gedacht: Hätte mich doch mal jemand angesprochen und ich mich einer fairen Diskussion stellen können. Das hätte ich auf jeden Fall gemacht. Aber diese Anfeindungen haben nur im virtuellen Raum stattgefunden.
Sie waren plötzlich der Sündenbock für die Probleme einer ganzen Sportart. An dem Tag gab es eine andere Reiterin, die ebenfalls Probleme hatte und auch in der Vergangenheit gab es das schon. Fühlten Sie sich da alleingelassen?
Ja, es war schon eine schwierige Situation. Es ist klar, dass alle genau hinschauen, wenn man vorne platziert ist. Für mich ganz schwer war, dass diese Situation das Fünfkampfreiten so dargestellt hat, wie es in der Regel gar nicht passiert. So eine Situation hatte ich vorher nie erlebt und die erlebe ich hoffentlich nie wieder. Es war eine Situation, die sowohl beim Pferd als auch bei mir diesem Druck und dieser Umgebung geschuldet war, weil es noch gar nicht zu einem Ritt kam, als die Probleme aufgetreten sind.
Wer waren die Leute, die Ihnen wichtig waren und geholfen haben? Von außen wirkte es wie alle gegen eine.
So habe ich mich auch gefühlt. Was mir als erstes geholfen hat, war der unfassbare Rückhalt der ganzen internationalen Fünfkämpfer, als ich am Tag danach wieder im Stadion war und den Wettkampf der Männer angeguckt habe. Die kennen mich alle gut und auch mein Verhältnis zu Pferden. Diesen Rückhalt zu bekommen, war ganz wichtig. In der Zeit danach haben mir zuhause natürlich die Familie, die engen Freunde und Trainer am meisten geholfen. Wenn ich nicht so ein gutes Umfeld gehabt hätte, wäre es viel schwerer geworden.
Das war aber noch nicht das Ende. Es gab eine Anzeige wegen Tierquälerei. Das Verfahren wurde zwar mittlerweile eingestellt, aber was haben Sie gedacht, als Sie plötzlich nicht mehr Sportlerin waren, sondern Beschuldigte?
Das war schockierend für mich. Wie ich schon gesagt habe, war unter den ganzen Anfeindungen der Vorwurf der Tierquälerei am schlimmsten. Ich habe mich immer so weit von Tierquälerei distanziert. Ich bin mit Tieren aufgewachsen und hatte mit drei mein erstes Pony. Mir war dann bewusst, dass jeder, der mich nicht kennt, in mir eine Tierquälerin sieht. Wegen der Anzeige hätte ich mir gewünscht, dass der Tierschutzbund auf mich zukommt, mit mir persönlich spricht und mir sagt, was nicht richtig läuft und eine offene Diskussion über unsere Sportart führt. Dass es dann direkt zu einer Anzeige kam, ohne Kontakt diesbezüglich zu haben, war eine harte Erfahrung.
Gab es einen Moment, an dem Sie an ein Karriereende gedacht haben?
Kurz nach dem Wettkampf in Tokio war ich mir sicher, dass ich nicht so aufhören möchte. Dass ich eventuell nach Tokio aufhören möchte, stand vorher zur Debatte, als ich gesagt habe: Ich weiß noch nicht, ob ich nach den Spielen weitermachen werde. Dann war nach den Spielen und ich habe relativ zeitig gesagt, dass ich nicht so aufhören möchte. Dabei ging es gar nicht um die Platzierung, sondern um die letzte Erfahrung, die ich auf großer Bühne mit meinem Sport gemacht habe. Diese möchte ich gerne anders machen, als sie es in Tokio war.
Das Verfahren wurde eingestellt. Sie haben 500 Euro an eine gemeinnützige Organisation gezahlt. Können Sie uns diesen Zusammenhang erklären?
Kurz vor Weihnachten hatte ich Kontakt mit meinen Anwälten. Die haben gesagt, dass die Staatsanwaltschaft nun, nachdem eine anwaltliche Stellungnahme eingereicht wurde, bereit wäre, das Verfahren mit einer Auflage einzustellen. Das wollte ich ursprünglich nicht, aber meine Anwälte haben mir erklärt, dass dies bedeutet, dass keine Verletzung eines Gesetzes festgestellt wurde und nicht nachgewiesen wurde, dass ich dem Pferd willentlich Schaden zufügen wollte. Sie haben mir auch gesagt, dass sie bereit wären, es bis zum Ende auszufechten, sich das aber noch sehr hinziehen würde. Daraufhin akzeptierte ich, dass es für mich und alle Beteiligten besser ist, es auf diese Weise einzustellen.
Was das für ein Moment für sie, als klar war, dass jetzt ein Haken dran ist?
Es war schon eine große Erleichterung. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass das Verfahren ohne anderes eingestellt wird. Als mir dann aber aus juristischer Sicht erklärt wurde, was das bedeutet und dass ich als unschuldig gelte, war es eine große Erleichterung.
Wann saßen Sie denn erstmals wieder auf einem Pferd nach dem Vorfall von Tokio? Und was war das für ein Moment?
Eigentlich war es ganz schön. Ich habe mir relativ schnell vorgenommen, schon kurz nach Tokio, wieder reiten zu gehen. Weil ich immer ein gutes Verhältnis zu Pferden hatte und sehr gerne reite. Ich wollte direkt dort weitermachen und wieder eine schöne Erfahrung machen. So war ich dann noch kurz vor meinem Urlaub reiten und auch danach wieder regelmäßig.
Das waren aber vermutlich Pferde, die Sie kennen?
Ja, das waren unsere Fünfkampfpferde. Da bin ganz entspannt mit einer Trainingspartnerin reiten gegangen. Und das war auch so, wie ich es vorher kannte.
Und wann werden Sie wieder auf ein zugelostes Pferd steigen? Wann ist der nächste Wettkampf und wie stellen Sie sich darauf ein?
Das habe ich schon hinter mir. Wir hatten nach den Olympischen Spielen die Militärweltmeisterschaften. Dort war ich in der Mixed-Staffel. Ich hatte keine Angst davor, nicht auf das Pferd einwirken und mit ihm ein gutes Team bilden zu können. Natürlich war es komisch, wieder in einem Wettkampf zu starten. Aber da hatte ich viel Rückhalt von den Trainern und von meinem Staffelpartner. Es war ein gutes Erlebnis, ein guter Ritt und sozusagen wie ein Reset, um auch mir zu zeigen, dass ich gut mit Pferden umgehen kann.
Wie wichtig war das dann auch danach? War das wichtiger als das Ergebnis des Wettkampfes? Einfach zu sehen: Es funktioniert wieder oder funktioniert wieder so, wie es schon hunderte Male davor funktioniert hat?
Genau, ja. Das war eine große Erleichterung. Und ich hatte danach auch nochmal einen Wettkampf und da hat es auch wieder gut funktioniert. Und einfach mich darin bestätigt, dass ich schon auch ein gutes Gefühl für Pferde habe und es halt irgendwie diese Ausnahmesituation war, wo das Pferd überfordert war und ich überfordert war und dann einfach falsche Entscheidungen getroffen habe, aber dass das jetzt nicht der Regelfall ist.
Wie sehen jetzt Ihre mittelfristigen und auch langfristigen Ziele aus? Die nächsten Olympischen Spiele kommen etwas schneller als sonst.
Ich habe mir vorgenommen, dass ich Paris 2024 als Ziel nochmal ins Auge fassen möchte. Aber der Weg dorthin wird ein bisschen anders aussehen als die vier Jahre in Richtung Tokio. Ich hatte mir immer vorgenommen, dass ich mein Referendariat nach Tokio machen möchte. Und dabei bleibe ich auch. Ich fange jetzt Anfang Februar ein Referendariat in der Schule an und möchte mich dann in den eineinhalb Jahren vor Paris nochmal voll auf dieses Ziel konzentrieren und werde natürlich vorher auch ein paar Wettkämpfe bestritten haben.
In Paris wird das letzte Mal Moderner Fünfkampf – voraussichtlich jedenfalls – mit Pferden bestritten. Der Weltverband hat beschlossen, dann eine fünfte neue Sportart einzusetzen. Können Sie die Entscheidung nachvollziehen?
Erst war es für uns Athleten relativ überraschend. Weil es ja nach den Spielen hieß, dass Reiten auf jeden Fall Teil des modernen Fünfkampfs bleibt. Und dann haben wir es auch aus der Presse erfahren, dass es abgeschafft werden soll. Vielen von uns hat es erstmal das Herz gebrochen, weil wir sind mit Pferden aufgewachsen, wir mögen das Reiten gerne als Disziplin, wir können es gut. Und ich finde, es ist ein Teil vom Modernen Fünfkampf, den man nur schwer ersetzen kann. Aber wir haben natürlich Reformen im Reiten gefordert. Zum Schutz der Pferde und zum Schutz der Athleten. Aber anscheinend ist das so schwer, diese Reformen umzusetzen, dass der Weltverband es dann für einfacher gehalten hat, die Disziplin auszutauschen. Und das ist dann eine Entscheidung, mit der wir Athleten mitgehen müssen.
Sie sind – wenn ich das so sagen darf – schon im Herbst Ihrer Karriere und können damit leben, dass Sie eben noch einmal mit Pferden jetzt antreten können. Aber was bedeutet das für jüngere Athleten, die vielleicht 18, 19, 20 sind, die diese Disziplin als fünfte Disziplin trainiert haben. In drei Jahren wird umgestellt und dann müssen sie eine weitere Disziplin dazulernen und das Reiten fällt völlig weg. Bricht da vielleicht eine ganze Generation von Fünfkämpfern weg? Oder was ist da zu erwarten?
Da sind wir auch sehr gespannt. Es gibt jetzt eine Findungskommission für die fünfte Disziplin. Ich denke, sehr viel wird davon abhängen, was diese neue fünfte Disziplin ist, die unglaublich viele Kriterien erfüllen muss. Deswegen ist es auch schwierig, sich da kreativ was auszudenken. Wenn ich persönlich jetzt erst 18 oder 19 oder 20 wäre, fände ich es ganz schlimm. Es wäre für mich eine ungewisse Zukunft.
Aber in Paris wird nochmal geritten. Sie werden mit dabei sein. Was wünsche Sie sich für Olympia in Paris in zweieinhalb Jahren?
Also ich persönlich wünsche mir, dass ich einfach in guter Verfassung und guter Form da nochmal an den Start gehen kann. Unabhängig davon, um welchen Platz ich genau mitkämpfen kann. Und für die Sportart wünsche ich mir, dass wir bis dahin solche Änderungen im Reiten durchgesetzt haben, dass wir da nochmal als harmonisches Fünfkampf-Reiten auftreten können, was ja leider zuletzt – nicht nur Tokio, sondern auch bei den letzten Olympischen Spielen davor – nicht der Fall war. Und das wünsche ich mir wirklich als Fortschritt bis Paris. Dass wir, obwohl es danach dann halt nicht mehr dabei ist, nochmal zeigen können: Wir Fünfkämpfer bauen auch innerhalb von 20 Minuten eine Bindung zu den Pferden auf.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Christian Dexne, rbb sport.
Sendung: rbb24, 20.01.2022, 18 Uhr
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