Spielanalyse | Herthas Niederlage gegen Bayern - Ein dramatischer Klassenunterschied
Hertha BSC ist gegen den FC Bayern München im eigenen Stadion mit 1:4 unter die Räder geraten. Dabei zeigten die Berliner altbekannte Probleme, analysiert Marc Schwitzky
"Es müssen mehrere Dinge zusammenkommen, damit man in solch einem Spiel erfolgreich ist", setzte Herthas Trainer Tayfun Korkut nach dem Heimspiel gegen den FC Bayern zur Erklärung an und zählte auf: "Eine konzentrierte Defensivarbeit, dann auch ein stückweit Glück und die wenigen Momente, die man selber hat, nutzen."
Blickt man auf die 1:4-Niederlage gegen den deutschen Rekordmeister, wird schnell klar: An diesem Sonntagabend kam für die Berliner sehr wenig zusammen. Im Gegenteil, Hertha wurde im eigenen Stadion vom Gegner erdrückt. 5:30 Schüsse, 2:19 davon aufs Tor, 30:70 Prozent Ballbesitz, xG-Werte (Expected Goals) in Höhe von 0,85 zu 5,19 aus Berliner Sicht. Während die Blau-Weißen keinen guten Tag erwischten, zeigte sich der FC Bayern in Höchstform. "Die erste Halbzeit war wohl unsere stärkste – unglaublich dominant", bilanzierte Bayerns Trainer Julian Nagelsmann nach dem Spiel.
Hertha von Minute eins an unter Druck
Ist ein Bayern-Trainer äußerst zufrieden mit der Leistung seiner Mannschaft, ist das gegnerische Teams zumeist nicht zu beneiden gewesen. So war es auch für Hertha am Sonntag von der ersten Minute an ein brutaler Stresstest. Der Hauptstadtklub geriet von Beginn an unter Dauerbeschuss, bereits nach zehn Minuten hätte man mit mehreren Toren zurückliegen können. Tief in die eigene Hälfte gedrückt, gelang es Hertha kaum, die Münchener Angriffe zu verteidigen – immer wieder musste Torhüter Alexander Schwolow seine Mannschaft retten.
Dabei half auch die neu formierte Fünferkette nicht. Trainer Korkut sah sich aufgrund der personellen Probleme (Niklas Stark und Jordan Torunarigha fehlten) gezwungen, erstmals von seinem 4-4-2 abzurücken und in einem defensiveren System aufzustellen. Neben Kapitän Dedryck Boyata standen mit Linus Gechter und Marton Dardai zwei junge Eigengewächse in der Startelf. Im neuen 5-3-2 sollten die Abstände noch geringer, die zu verteidigen Räume für jeden Spieler noch kleiner sein.
Doch es half nichts, die Probleme blieben bekannte. Wie auch schon in den vergangenen Wochen hatte Hertha große Schwierigkeiten, bei Chipbällen richtig zu stehen und Flanken zu verteidigen. Wie schon gegen den 1. FC Köln und im Pokalderby gegen Union Berlin kassierte man das erste Gegentor des Spiels (25. Minute) durch eine hohe Hereingabe. Sowohl die Zuteilung als auch das letztendliche Zweikampfverhalten waren mangelhaft. Flanke Coman, Kopfball Tolisso, Treffer – gegen die "alte Dame" Tore zu erzielen, ist aktuell kein Hexenwerk. "Eine konzentrierte Defensivarbeit" – einer der drei von Korkut erklärten Erfolgszutaten - fehlte somit.
Herthas Probleme bleiben dieselben
Auch bei den weiteren Gegentreffern zeigte Hertha altbekannte Probleme. Das 0:2 (45. Minute) ist ein kläglich verteidigter Freistoß, bei dem Thomas Müller freistehend einschieben darf – nahezu deckungsgleich hatte Hertha gegen Union einen Treffer hergeschenkt. Wie schon über weite Phasen der ersten Halbzeit kam man auch in der zweiten Hälfte bis zur 74. Minute ohne weitere Gegentreffer davon. Dies allerdings nicht aufgrund einer stabilen Defensivleistung, sondern wegen des zweiten der drei von Korkut genannten Faktoren: Glück.
Im Minutentakt vergab der FC Bayern hochkarätige Chancen oder aber Hertha-Schlussmann Schwolow parierte stark. Doch war es ausgerechnet eben jener, der in der 75. Minute für das 0:3 sorgte und damit ein weiteres, mittlerweile nicht überraschendes Element des Hertha-Spiels präsentierte: individuelle Patzer. Schwolows Abspiel zu Gechter geriet zu kurz, sodass es von Leroy Sane abgefangen werden konnte und dieser ins leere Tor einschob.
So übermächtig Bayern an diesem Tag war, so viele Chancen es auch gab – die ersten drei kassierten Treffer dürfen in dieser Form auf Bundesliga-Niveau niemals fallen, Gegner-unabhängig. Einmal mehr machte es Hertha dem Kontrahenten zu einfach und sich selbst das Leben schwer. Das 0:4 von Serge Gnabry (79. Minute) fiel ebenfalls zu leicht, voraus ging ein Kollektivversagen der Berliner, die nur noch hinterhergelaufen waren. Zwar erzielte der eingewechselte Jurgen Ekkelenkamp nur eine Minute später den Anschlusstreffer, mehr als Ergebniskosmetik war dies aber nicht.
Eine entscheidende Länderspielpause
Zumindest bediente Herthas Treffer zum 1:4 das letzte Element: Das Nutzen der eigenen Momente. Von eben jenen hatte es in der Heimniederlage vor 3.000 Fans kaum welche gegeben. Einzig Daridas Chance in der 52. Minute hätte zwingend in einem Tor münden müssen, ansonsten kamen die Berliner Offensivbemühungen nicht über Ansätze hinaus.
Und so ergibt sich ein Cocktail an Problemen, die man bei Hertha nur allzu gut kennt: Eine verschlafene Anfangsphase, viel zu leicht kassierte Gegentore, hanebüchene Defensivpatzer, ein fehlendes zusammenhängendes Offensivspiel und mangelnde Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor. Mit so vielen Defiziten wird ein Bundesliga-Sieg ein Ding der Unmöglichkeit – hierfür muss der Gegner nicht einmal Bayern München heißen. So verwundert es nicht, dass Hertha im Kalenderjahr 2022 noch kein Spiel gewonnen hat.
Es geht eine schwarze Woche für Hertha vorbei. Erst die schmerzhafte, weil so verdiente Derby-Niederlage im Pokal, dann der Fan-Aufmarsch im Samstagstraining und letztendlich die deutliche Pleite gegen den FC Bayern. Die nun anstehende Länderspielpause könnte eine entscheidende Phase für Korkut und seine Mannschaft sein. Nur noch drei Punkte trennen Hertha BSC von den Abstiegsrängen, die beiden kommenden Gegner sind die Aufsteiger Bochum und Fürth – Pflichtsiege in Herthas Lage. Wird in diesen Spielen nicht gepunktet, wird der Druck enorm – und mit Druck kann die Herthaner Mannschaft bekanntermaßen nicht gut umgehen.
Sendung: Inforadio, 06:16 Uhr, 24.01.2022