1:6-Niederlage Herthas gegen Leipzig - Zwischen zarter Hoffnung und brutaler Resignation
Zahlreicher Corona-Ausfälle zum Trotz zeigt Hertha BSC gegen RB Leipzig über 60 Minuten lang eine mehr als ordentliche Leistung. Doch es reicht eine einzige Szene, um das Heimspiel der Berliner in einen Albtraum zu verwandeln, an dessen Ende ein 1:6 stand. Von Marc Schwitzky
In der 61. Minute verliert Marco Richter den Ball auf dem rechten Flügel, etwa auf Höhe der Mittellinie. Eine etwas aufgerückte Berliner Mannschaft, die sich bereits im Angriffsmodus befindet, kann anschließend das schnelle Leipziger Umschalten nicht mehr verhindern. Der Gegner braucht ganze zwei Pässe, um in Berlins Strafraum einzudringen.
Das dilettantische Verteidigen und eine Einlage von Marc Oliver Kempf gegen Christopher Nkunku, die eher im griechisch-römischen Ringen zu verorten ist, führen zu einem glasklaren Elfmeter für Leipzig. Kempf sieht darauffolgend die redlich verdiente Rote Karte, Nkunku verwandelt den fälligen Strafstoß souverän und Hertha muss anschließend zu zehnt weiterspielen.
Und dann ging es dahin. Es ist dieser eine Moment, der eine bis dahin ausgeglichene Partie auf dramatische Weise kippen lässt. Es ist dieser eine Moment, der mit bestmöglicher Auflösung aufzeigt, was das wohl größte Problem von Hertha BSC in der laufenden Saison ist.
Besinnung auf die Grundtugenden – eine ordentliche erste Hälfte
Doch der Reihe nach. Korkut entscheidet sich, für die Begegnung mit dem Tabellenvierten sein favorisiertes 4-2-2-2-System gegen ein 4-3-3 einzutauschen, um Leipzigs Zentrumsfokus zu kontern. Der Plan geht im ersten Durchgang auf. Während Hertha gegen Bochum und Fürth noch auffällig hoch anläuft, setzen die Berliner gegen Leipzig auf ein Mittelfeldpressing. Die Hausherren agieren so taktisch diszipliniert und kämpferisch stark, dass es den Gästen äußerst schwerfällt, den vielen Ballbesitz in Torgefahr umzumünzen. Konzentration, taktische Disziplin und eine leidenschaftliche Freude am Verteidigen – Attribute, die Hertha in dieser Spielzeit so oft vermissen lässt, sind urplötzlich allesamt vorhanden.
Aufgrund der so guten Staffelung gegen den Ball zeichnet sich eigentlich kein Gegentor ab, doch als Hertha in der 20. Minute erstmals den Raum zwischen defensivem Mittelfeld und Abwehr öffnet, schlägt Leipzig eiskalt zu. Der alleingelassene Benjamin Henrichs kann gleich zweimal sein Glück versuchen, bis Abwehr-Talent Linus Gechter sehr unglücklich ins eigene Tor abfälscht. Und so führt Leipzig, obwohl Hertha bis dahin wenig bis gar nichts falsch gemacht hat. Die Hauptstädter zeigen sich von dem Gegentreffer jedoch recht unbeeindruckt, die eigenen, zuvor unpräzise ausgespielten Angriffe werden im Anschluss sogar merklich zielstrebiger.
Trotz gutem Start - Hertha geht im zweiten Durchgang unter
Nach Wiederanpfiff belohnt sich Hertha auf Anhieb für die disziplinierte erste Halbzeit und gleicht in der 48. Minute durch Stevan Jovetic aus. Nach dem 1:1 folgt eine regelrechte Drangphase der Berliner, knapp 15 Minuten lang ist die "Alte Dame" das spielbestimmende Team. Hertha veranschaulicht wie keine andere Bundesliga-Mannschaft, wie entscheidend der Kopf im Sport ist. Es braucht ein einziges Erfolgserlebnis und die Spieler wirken wie befreit. Plötzlich ist das nötige Selbstbewusstsein vorhanden, plötzlich wird guter, flüssiger Fußball gespielt, als hätte Hertha den Lauf und nicht Leipzig. Auf einmal wächst zarte Hoffnung.
Diese Wankelmütigkeit zeigt sich aber eben auch im Negativen. In Herthas stärkster Phase fällt die anfangs beschriebene Szene. Schlagartig liegen die Blau-Weißen mit 1:2 zurück und müssen die letzte halbe Stunde mit einem Spieler weniger bestreiten. Ein Tiefschlag. Das eigens kreierte Momentum ist weg, Hertha der Stecker gezogen.
Die darauffolgenden vier Gegentore lässt das Heimteam auf eine tragische Art wehrlos über sich ergehen. 60 lobenswerte Minuten werden von 24 fürchterlichen pulverisiert. Die winzige Knospe der Hoffnung wird in diesen Minuten wieder brutal zertreten. Am Ende verliert Hertha mit 1:6. "Wir sind brutal enttäuscht. Das Ergebnis ist Wahnsinn. Wenn man sich die Partie anschaut, haben wir zwei verschiedene Spiele gesehen. Bis zum 2:1 und nach dem 2:1", erklärte Fredi Bobic nach dem Spiel.
Ein Spiel mit zwei Geschichten
Denn ja, der Sonntagabend schreibt zwei Geschichten. Zum einen hat Hertha lange Zeit die vielleicht reifste Leistung im neuen Kalenderjahr gezeigt. Es ist sichtlich ein Ruck durch das Team gegangen, das den Abstiegskampf angenommen zu haben scheint. Es war eine neue Ernsthaftigkeit im Berliner Spiel zu spüren, das sich deutlich mehr über Grundlagen des Sports definiert. Sechs kurzfristigen Corona-Ausfällen und insgesamt 14 (!) fehlenden Spielern zum Trotz hat der Hauptstadtklub lange gegen einen übermächtigen Gegner tapfer standgehalten.
Zum anderen wurde einmal mehr ersichtlich, wie überaus fragil dieses Team ist. Der Zerfall nach dem 1:2 ist so dramatisch, dass die zufriedenstellenden ersten 60 Minuten diesen kaum aufwiegen können - zu erschütternd ist unterm Strich das Ergebnis. Die fehlende Widerstandsfähigkeit zeichnet Hertha weiter aus, ist aber die wohl wichtigste Eigenschaft im Abstiegskampf. Korkut hat es in drei Monaten nicht geschafft, seinem Kader die nötige Resilienz beizubringen. Der Berliner Sportclub ist weiterhin nicht in der Lage, ein Bundesliga-Spiel über volle 90 Minuten anzunehmen.
Klassenerhalt in Gefahr
Lässt sich die "Alte Dame" von jedem Rückschlag umpusten, fehlen die Argumente für den Klassenerhalt. Verweise auf die guten Phasen in einem Spiel werden so auf Dauer zu nichtigen Phrasen – schließlich vergibt der Fußball keine B-Noten, das eiskalte Tabellenungeheuer ernährt sich nur von Punkten. Zwei Zähler aus den letzten sechs Partien, ein Torverhältnis von 5:16, die ligaweit zweitschlechteste Abwehr, der viertschlechteste Sturm - Bobic hält trotz dieser Kennzahlen an Trainer Korkut fest. Man verfalle nicht in Aktionismus. Die Frage ist, ob es angesichts der Entwicklung der letzten Wochen und der prekären Tabellensituation noch Aktionismus wäre.
Sendung: rbbUM6, 21.02.2022, 18 Uhr