Union Berlins Offensive ohne Max Kruse - Eine Frage des Systems und der Effektivität

In Spiel eins nach dem Abgang von Max Kruse verlor Union Berlin torlos gegen Augsburg. Laut Taktik-Experte und Mitbetreiber des Blogs Textilvergehen Daniel Roßbach ist das allerdings kein Grund zur Panik. Von Jakob Lobach
Im roten T-Shirt vor einer roten Wand sitzend guckt Daniel Roßbach freundlich in die Kamera. Das Setting passt also perfekt zum Gesprächsthema, für das der Taktik-Experte und Mitbetreiber des Blogs und Podcasts Textilvergehen [textilvergehen.de] zugeschaltet ist: Union Berlin. Genauer gesagt geht es um die Analyse der 0:2-Niederlage gegen den FC Augsburg vom Samstag und die Frage, wie der Abgang von Leistungsträger und Offensivmann Max Kruse die Taktik und das Angriffsspiel der Köpenicker schon verändert hat und noch weiter verändern wird.
Die Ausgangslage
Um beurteilen zu können, wie der Abgang des 33-Jährigen das Unioner Spiel verändert, braucht es ein Verständnis von dessen Rolle in der Mannschaft und der Taktik von Trainer Urs Fischer. Auffällig hierbei: Kruse war bis zuletzt zwar Unions individuell klar bester Akteur und einer dieser vielzitierten "Unterschiedsspieler", aber dennoch niemand, der aus dem Spielsystem herausstach oder dieses gar für sich beanspruchte. "Max Kruse hatte keine so herausragende Stellung, dass alles, was in Union Berlins Spiel passiert ist, auf ihn und seine Qualitäten zugeschnitten war", erklärt Daniel Rossbach.
Im Gegenteil: Unter Urs Fischer spielt die Mannschaft einen sehr Prinzipien-geleiteten Fußball. "Sehr stringent und mit dem eigenen System verbunden", so Rossbach. So hat auch Max Kruse seine Tore in der Regel nicht durch außergewöhnliche Einzelaktionen und Dribbelsolos erzielt, sondern aus dem System Fischer und Situationen heraus, in denen sich auch andere Unioner Offensivakteure regelmäßig wiederfinden. So war gegen Augsburg keinesfalls zu beobachten, dass Urs Fischer in Abwesenheit Kruses sein System komplett über den Haufen wirft und neu gestaltet.
Die Säulen der Unioner Offensive
Stattdessen verließ Fischer sich auch gegen Augsburg in seinem Matchplan auf die Offensivmittel, die das Spiel seiner Mannschaft prägen. "Drei Kernpunkte" ließen sich dabei im Unioner Angriffsspiel beobachten, so Rossbach: Lange Bälle aus der Abwehrreihe in Richtung der Stürmer, dazu umtriebige Offensivkräfte auf den Flügeln sowie die wichtige Rolle der Außenverteidiger. Am meisten bemerkbar machte sich Kruses Fehlen am Wochenende, wenn es darum ging, die oft erfolgreichen Bälle aus der defensiven Dreierreihe durch das Mittelfeld in Richtung Offensivreihe nach der Annahme weiterzuverarbeiten.
"Das sind die Momente, in denen die individuelle Qualität der Passempfänger entscheidend dafür ist, wie der Angriff weitergeht", sagt Rossbach. Und in genau diesen Momenten brilliert Kruse regelmäßig mit guter Technik und vor allem guten Ideen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nun andere Spieler vermehrt kreativ als Spielgestalter und Initiatoren tätig werden müssen. Gegen Augsburg drängte sich diesbezüglich noch kein Akteur bemerkenswert auf.
Die Schlüsselrolle des Sheraldo Becker
Was noch nicht ist, kann ja aber bekanntlich noch werden. So hat Union gleich mehrere Spieler in den eigenen Reihen, die gerne offensiv eine größere individuelle Rolle einzunehmen und mehr Verantwortung übernehmen werden. Allen voran der Name Sheraldo Becker muss hier genannt werden. Wenn Union gegen Augsburg offensiv gefährlich wurde, ging dem oft eine Aktion Beckers auf dem Flügel voraus. "Es ist ihm gut gelungen, sich in den Halbräumen anspielbereit anzubieten und dann mit seinem Tempo Durchbrüche zu schaffen", analysiert auch Rossbach.
Genau das wird auch in Zukunft Kernaufgabe des 26-Jährigen bleiben. "Ich glaube gar nicht, dass Spieler wie Becker ohne Kruse anders spielen müssen", sagt Rossbach. Vielmehr werden sie ihre Stärken in Zukunft schlichtweg häufiger einsetzen dürfen und müssen. Ein zusätzliches Plus in Beckers Fall wäre, wenn dieser seine zwischenzeitlichen Schwankungen in der Entscheidungsfindung am Ball und bei seinen Hereingaben noch etwas reduzieren würde.
Der Faktor Effektivität
Neben der Konstanz wird es für Union Berlin in den kommenden Wochen und Monaten vor allem auf den Faktor Effektivität ankommen. Zuletzt war dies die große Stärke der Köpenicker – auch dank Max Kruse. "Kruse war in der Lage, das gut funktionierende Unioner System noch effektiver zu machen", erklärt Rossbach. Sprich: der Ex-Unioner war offensiv in der Lage, aus verhältnismäßig wenig verhältnismäßig viel für seine Mannschaft herauszuholen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass fortan andere Unioner ähnlich effektiv agieren müssen, wenn man so erfolgreich weiterspielen möchte wie zuletzt.
Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, hat das Augsburg-Spiel zumindest angedeutet. Zumal Union in der aktuellen Bundesligasaison so effizient und gut Fußball spielt, dass es – gemessen an den eigenen Möglichkeiten – nicht viel besser geht. Auch Daniel Rossbach vermutet, dass die Effektivität mitsamt der spielerischen Performance insgesamt bis zum Saisonende eher sinken als steigen wird. Ein bisschen Sorge würde ihm das bereiten, aber bei weitem keine Panik auslösen, sagt er. Denn: "Selbst, wenn Union noch fünf oder gar acht Tabellenplätze verlieren würde, wäre die Saison immer noch keine große Enttäuschung."
Sendung: rbb UM6, 06.02.2022, 18 Uhr