Spielanalyse | Hertha bringt sich gegen Bochum um den Lohn - How to Schwolow

Hertha BSC lieferte gegen den VfL Bochum eine hervorragende erste Halbzeit ab. Nur um dann mit einem individuellen Fehler den Ausgleich zu kassieren. Das 1:1 (1:0) am Freitagabend lieferte positive Erkenntnisse, aber auch viel Ernüchterung. Von Marc Schwitzky
"Mutig, griffig, offensiv" – diese Attribute wählte DAZN-Kommentator Max Siebald, um Herthas Auftritt in der ersten Halbzeit gegen den VfL Bochum zu beschreiben. Spätestens bei diesen Worten zur Halbzeitpause werden sich Fans der "alten Dame" in einer anderen Realität gewähnt haben.
Tatsächlich war die Leistung der Blau-Weißen im ersten Durchgang des Freitagabendspiels mit wenig zuvor Gesehenem in dieser Saison zu vergleichen. Allein die ersten 15 Minuten der Berliner waren ein Quantensprung, vergleicht man sie mit vielen zurückliegenden Anfangsphasen. Oftmals kommt Hertha zu Beginn einer Partie auffällig phlegmatisch daher: Es fehlt an Konzentration, Körperspannung und Kommunikation. So gerieten die Berliner in sämtlichen Partien des neuen Kalenderjahres schon von der ersten Minute an unter Druck.
Hertha kommt ungewohnt gut ins Spiel
Doch gegen Bochum war zunächst vieles anders. Hertha war von der ersten Minute an hellwach. Das Heimteam wirkte deutlich griffiger im Zweikampf, gefällig im Passspiel. Das krampfige Element der gewohnten Hertha-Anfangsphase, es muss in der Länderspielpause geblieben sein. Auffällig war der vom Trainerteam gewählte Ansatz gegen Bochum. Hertha presste im ersten Durchgang immer wieder bemerkenswert hoch. Der balltragende Bochumer und sein näheres Umfeld wurden teilweise von vier Spielern in blau-weiß gleichzeitig angelaufen und unter Druck gesetzt. Dafür schoben entweder Vladimir Darida oder Santiago Ascacibar zusätzlich in den jeweiligen Raum.
So musste der VfL immer wieder auf lange Bälle im Spielaufbau setzen, um sich zu befreien. Zwar agiert die Mannschaft von Trainer Thomas Reis ohnehin gerne mit weiten Abschlägen, unter Herthas Druck wurden diese jedoch völlig unkontrolliert gespielt, was in frühen Berliner Ballgewinnen mündete. Sollte ein langer Ball doch einmal sein Ziel erreichen, hielt Herthas Viererkette exzellent die Höhe, um sofort den Zweikampf annehmen zu können. So klärte vor allem Abwehr-Verstärkung Marc Oliver Kempf zahlreiche Situationen souverän.
Hertha gewinnt die Basics und dominiert
Es schien, als hätten die Spieler das 4-2-2-2 Korkuts erstmals vollständig aufgesaugt. Hertha machte dafür vor allem die Grundlagen des Fußballs zu ihrer Hauptaufgabe: eine stabile Organisation in allen Ketten, aggressives Anlaufen, griffig und gallig im Zweikampf sein, das emsige Aufsammeln der zweiten Bälle. Herthas disziplinierte Arbeit gegen den Ball kaufte Bochum, das diese Elemente ebenfalls als Kerndisziplin erachtet, somit den Schneid ab.
Auch mit dem Ball ging der Plan größtenteils auf. Vor allem die sehr aktive linke Seite von Maximilian Mittelstädt und Myziane Maolida entfachte immer wieder Dynamik, der Bochum wenig entgegenzusetzen hatte. Auch der wiedergenese Stevan Jovetic unterstrich seinen enormen Wert für die Mannschaft, indem er sich konstant in den Zehnerraum fallen ließ und dort das Spiel an sich riss. Die Offensivabläufe wirkten einstudiert und gut geölt, bis zum gegnerischen Strafraum zeigte Hertha eine ihrer besten Saisonleistungen. Ein Manko: Das Team brach regelmäßig durch sehenswerte Kombinationen und Tempoläufe in Bochums Sechszehner, doch eine zielsichere Vorlage blieb oft aus.
Immerhin über einen Standard konnte Hertha in Führung gehen. Ishak Belfodil köpfte den präzisen Freistoß von Sturmpartner Jovetic geschickt ein (23. Minute). So ging es mit dem verdienten 1:0 in die Halbzeitpause. "Das war die beste Halbzeit seitdem ich hier bin", resümierte Trainer Korkut nach dem Spiel.
Hertha zeigt ein altbekanntes Gesicht im zweiten Durchgang
So ungewohnt spritzig Hertha den ersten Durchgang begonnen hatte, so altbekannt war das Gesicht der zweiten Halbzeit, in der die Hausherren aus dem Nichts kalt erwischt wurden. In der 48. Minute überspielte Bochum mit einem langen Ball das gesamte Feld, Kempf und Niklas Stark hatten daraufhin Probleme, Jürgen Locadia und Sebastian Polter zu verteidigen. Locadia kam außerhalb des Strafraums zum Abschluss, den Herthas Torhüter Alexander Schwolow unglücklich in die Mitte abfälschte, sodass Polter nur noch einschieben musste. Ein Fehler des ohnehin in der Kritik stehenden Schwolows, der die Torhüterdebatte bei Hertha neu entfachen wird.
Wie so oft bei der "alten Dame" wird der Gegner durch einen individuellen Fehler zum Tor eingeladen. Und wie so oft schafft es Hertha im Anschluss nicht, sich von jenem Rückschlag zu erholen. Auch an dem regnerischen Freitagabend vor 3.000 Zuschauern vermochten es die Berliner nicht, sich kurz zu schütteln und wieder an den Plan zu halten. Das aus dem ersten Durchgang erarbeitete Selbstvertrauen wurde mit dem 1:1-Ausgleichstreffer pulverisiert. Zwar reagierte Trainer Korkut mit zahlreichen offensiven Wechseln, die vielen neuen Kräfte schienen die Mannschaft jedoch nur noch konfuser agieren zu lassen. Mehr als Stückwerk kam nicht mehr zustande. Die zweite Halbzeit war von Zweikämpfen geprägt, Spielfluss kam nicht mehr auf. "Wir haben uns von der Art und Weise aus Hälfte eins entfernt und uns an das Spiel des Gegners angepasst", so das Fazit Korkuts.
Was bleibt ist Ernüchterung
So blieb es beim 1:1, das mit viel Enttäuschung seitens Hertha einhergeht. Die erste Halbzeit hätte ein Meilenstein in der Mannschaftsentwicklung werden können, die schwache zweite Hälfte schmälert den Gesamteindruck jedoch massiv. Einmal mehr konnte Hertha eine gute Leistung nicht auf 90 Minuten strecken, einmal mehr stellte man sich durch einen individuellen Fehler selbst ein Bein, einmal mehr entblößte ein Negativereignis das fragile Gebilde dieser Mannschaft. Was bleibt, ist somit Ernüchterung – und nur ein Punkt gegen einen direkten Konkurrenten um den Klassenerhalt. Gewinnt Hertha das kommende Spiel gegen Fürth nicht, wird der Druck immens. Verweise auf Ansätze der Weiterentwicklung wären angesichts der bedrohlichen Tabellenlage dann nur noch Makulatur.
Sendung: Inforadio, 04.02.2022, 22:15 Uhr