Interview | Sportsoziologe Gunter Gebauer vor Olympia - "Es ist noch nie so viel über die politischen Probleme Chinas berichtet worden"
Die Olympischen Winterspiele in Peking starten am Freitag. Im Vorfeld gab und gibt es viel Kritik an der Vergabe und den politischen Umständen im Land. Der Sportsoziologe Gunter Gebauer teilt diese Kritik, will die Spiele aber dennoch interessiert verfolgen.
rbb|24: Herr Gebauer, am Freitag werden in Peking die Olympischen Winterspiele mit der traditionellen Eröffnungsfeier starten. Mit Tanz, Kostümen und Feuerwerk. Wie blicken Sie auf den Start?
Gunter Gebauer: Beklommen. Ich denke, die Vorzeichen sind nicht sehr gut - aus sehr vielen Gründen. Zum einen die Weltlage, die sehr ungünstig ist, zum anderen die Situation in China, mit den Unterdrückungsszenarien in verschiedenen Teilen des Landes. Das alles verspricht nicht sehr viel Gutes. Hinzu kommt die Abwesenheit westeuropäischer und nordamerikanischer Politik-Prominenz. Sie werden nicht kommen und nehmen dem Ereignis so Glanz. Und auch die autoritäre Führung des Internationale Olympischen Komitees macht nicht gerade Freude.
Peking ist weder eine Wintersportregion, noch werden in China Menschenrechte geachtet. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat die Spiele dennoch an China vergeben. Wie konnte es zu dieser Entscheidung kommen und welche Rolle spielt die Politik?
Das IOC besteht zum Teil ja auch aus China - das darf man nicht vergessen. Das IOC ist kein vollkommen neutrales, unabhängiges Gremium, das über dem Weltsport thronen würde. Es besteht vielmehr aus Vertretern der einzelnen Mitgliedsländer. Da sind natürlich auch die Vertreter Chinas dabei, seit einiger Zeit sogar in sehr wichtiger Funktion. Sie repräsentieren in etwa ein Viertel der Weltbevölkerung - auch das darf man nicht vergessen.
Auch die Vertretungen etwa von Russland und Saudi Arabien sind dabei, um nur zwei Staaten zu nennen, die zuletzt damit aufgefallen sind, ihre inneren Verhältnisse in große Unordnung, beziehungsweise aus ihrer Sicht in Ordnung zu bringen. Länder, die uns also sehr fern stehen. Das IOC repräsentiert also gar nichts, sondern ist eher eine internationale Versammlung, in der es um die Macht des Stärkeren geht. Das alles unter einem Präsidenten [Thomas Bach; Anm. d. Red.], der sich der Macht der Stärkeren immer beugt.
Für die aufstrebende Weltmacht China bietet sich in den nächsten zwei Wochen die Chance auf Hochglanz-Bilder. Die Schlagzeilen über Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung von Minderheiten, Freiheitsbeschränkungen und eingeschränkte Pressefreiheit sollen in den Hintergrund rücken. Was muss die Weltöffentlichkeit tun, damit das nicht passiert?
Ich finde, die Weltöffentlichkeit - darunter können wir ja nur die freien Medien verstehen - hat schon eine Menge getan, um die Missstände Chinas - aus unserere Sicht zumindest Missstände - in den Blick zu rücken. Es ist wohl noch nie so viel über die politischen Probleme Chinas berichtet worden wie in den letzten drei Wochen. Allerdings eben auch erst seit drei Wochen intensiv, seit der Zeitpunkt der Eröffnung näher rückt. Das ist ja immer so bei Olympischen Spielen: Vorher ist es relativ egal, was in dem Land passiert. Jetzt, wo ein großes Ereignis stattfindet, wird in großem Ausmaß darüber berichtet. Ich glaube, das ist der chinesischen Führung nicht besonders angenehm.
Bei der Vergabe von großen Sportereignissen wird immer auch auf die Chancen verwiesen: Die Probleme der jeweiligen Länder könnten stärker in den Vordergrund rücken. Sehen Sie diese Chancen?
Ja. China wird normalerweise zum großen Teil unter ökonomischen Aspekten betrachtet. Gelegentlich gibt es auch mal einen politischen Aspekt, zum Beispiel wenn in Hongkong eine Wahl unterdrückt, eine Zeitung verboten oder ein Journalist eingebuchtet wird. Dann gibt es Nachrichten, die nach zwei oder drei Tagen aber bereits wieder enden. Es sind also sporadische Nachrichten. Auch die Rolle der Uiguren im Land ist lange bekannt. Es gibt ein abrufbares Dossier des deutschen Parlamentarischen Dienstes, in dem die Rede von kulturellem Genozid ist. Das hat vor ungefähr vier Monaten aber noch niemanden groß gestört.
Was bedeuten die Winterspiele für die Chinesinnen und Chinesen? Die Regierung propagiert eine goldene Zukunft durch die Spiele: Bis nächstes Jahr sollen durch die vermeintliche Faszination von Olympia 300 Millionen Bürgerinnen und Bürger zu Wintersportlern werden.
Wir wissen natürlich nicht genau, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Ob sie fasziniert sind von einem Sport, den sie bislang noch gar nicht kennen. Den sie aber vielleicht in den letzten paar Monaten immer wieder im Fernsehen gesehen haben. Von der Regierung wurde eine Parole ausgegeben, dass China auch im Wintersport eine Weltmacht werden wird. Athleten wurden auf die neuen Sportarten vorbereitet. Das ist aber natürlich nicht so einfach hinzubekommen, in einem Land, das zu großen Teilen aus Wüsten und Gebieten, in denen die Temperatur selten unter 20 Grad Celsius fällt, besteht. Wenn Schnee da ist, dann oft nur in speziellen Hallen, in denen man künstliche Hügel angerichtet hat. Trotzdem hat die chinesische Regierung 300 Ski-Ressorts für die Zukunft versprochen. Es ist aber schwer vorstellbar, dass ein Land, das überhaupt keinen Wintersport kennt und noch nie damit in Berührung gekommen ist, plötzlich große Ski-Begeisterung entwickelt.
Einige Länder, darunter die USA und Großbritannien, werden keine Regierungsvertreter zu den Spielen schicken. Sie haben sich für einen diplomatischen Boykott entschieden. Deutschland beteiligt sich daran bislang nicht. Was halten Sie vom diplomatischen Boykott einiger Länder und sollte Deutschland mitmachen?
Ich finde es einsehbar und vernünftig, dass Länder wie Großbritannien und die USA keine diplomatische Vertretung schicken. Deutschland ist in einer schwierigen Position, weil man einen europäischen Boykott ins Werk setzen möchte - nur das hätte Sinn. Wenn einzelne Länder der Europäischen Union boykottieren und andere munter hinfahren, sähe das sehr disparat aus. Unsere Außenministerin [Annalena Baerbock; Anm. d. Red.] hat sehr stark darauf gesetzt, gemeinsam mit Frankreich die EU dazu zu bringen, nicht hinzufahren. Frankreich ist allerdings in einer prekären Situation, weil sie in zwei Jahren die nächsten Olympischen Spiele veranstalten. Sie können sicher sein, dass wenn sich niemand von der französischen Regierung in Peking beteiligt, China die Retourkutsche fahren und die französischen Spiele boykottieren würde. Das hatten wir schon mal mit dem Boykott der Spiele in Moskau 1980 und Los Angeles 1984, als sich westliche Staaten und der Ostblock gegenseitig boykottierten. Das hatte weder für die Spiele noch für die Diplomatie oder die Ökonomie positive Folgen. Vielmehr hat es Ärger und Verstimmung ausgelöst.
Wir haben jetzt lange über die Probleme und die Kritik an den Spielen gesprochen. Werden Sie als Sportfan trotzdem ab Freitag einschalten und die Wettbewerbe schauen?
Nicht alle Wettbewerbe, das ist schon mal klar. Ich werde aber Wettbewerbe schauen und mir auch die Zeremonien angucken. Ich möchte mir einen Reim darauf machen und bin gespannt auf das Spektakel, das sich die Chinesen ausgedacht haben. Das wird sehr sehenswert sein. Es ist aber nicht deswegen, dass ich es gucke, sondern ich möchte sehen, wie sich die Chinesen, aber auch die internationalen Besucher verhalten. Ich möchte kritisch begleiten, welches Bild China versucht von sich zu vermitteln. Aber es ist doch interessant, dass Olympische Spiele, egal, wie sie politisch vorbereitet werden und egal, welch schlechten Ruf sie haben, weltweit gesehen werden. Die Spiele von Rio de Janeiro 2016, die ebenfalls nicht zu den besten Spielen der letzten Jahrzehnte gehören, hatten eine riesige Einschaltquote. Man kann natürlich sagen, dass es furchtbar ist, dass die Leute alle gucken, aber es ist - egal, wie man es dreht und wendet - auch etwas weltumspannendes. Nochmal: Das muss man nicht schön finden, aber es gibt über den Sport eine Gemeinsamkeit, die uns interessieren kann.
Wenn wir in fünf Jahren auf die Spiele 2022 in Peking schauen werden, an was werden sich die Menschen erinnern?
Ich glaube, der ganze politische Kontext wird nicht vergessen sein. Das wird sowohl in den Geschichtsbüchern stehen als auch von Journalisten immer wieder erinnert werden. Ich glaube, jeder der Zeitgeschichte aufmerksam verfolgt, wird daran zurückdenken. Man wird an den Krampf denken, der vor den Spielen in Peking stattgefunden hat und sich freuen, dass - wenn man in fünf Jahren zurückblickt - die letzten Winterspiele in Mailand [Austragungsort der nächsten Winterspiele 2026; Anm. d. Red.] stattgefunden haben werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jonas Bürgener, rbb sport.