Analyse | Big Points in Augsburg - Der Prince küsst die Alte Dame wach

Hertha BSC hat nach dem Derby-Debakel Wiedergutmachung betrieben und überlebenswichtige drei Punkte beim FC Augsburg erkämpft – ein entscheidender Faktor: Kevin-Prince Boateng. Von Marc Schwitzky
Unter der Woche holt Felix Magath zu einer vernichtenden Analyse aus. Herthas Trainer, seit Mitte März im Amt, stellt im Interview mit Sky ein Vakuum an Führungsspielern fest: "Ein weiteres Problem in unserem Kader ist, dass wir davon eigentlich keine haben." Der einzige, der Magath einfiele, sei Kevin-Prince Boateng, der jedoch aufgrund körperlicher Probleme keine 90 Minuten spielen könne.
Auch gegen den FC Augsburg reicht es bei Boateng nicht für 90 Minuten. Bei seinem Startelf-Comeback nach 196 Tagen (7. Spieltag gegen den SC Freiburg) steht der Routinier immerhin 69 Minuten auf dem Feld. Boateng, der im vergangenen Sommer nach 14 Jahren zu Hertha BSC zurückgekehrt ist und auf dem so große Hoffnungen ruhen, zeigt am Samstagnachmittag sein bisher bestes Saisonspiel und ist somit maßgeblich an den so wichtigen drei Punkten beteiligt. "Ich habe die Wochen hart trainiert und ich wurde belohnt. Ich sehe doch nicht wie ein Spieler aus, der fertig ist", sagt Boateng nach dem Abpfiff in gewohnt selbstbewusster Manier.
Magath baut die Startelf erheblich um – mit Erfolg
Boatengs Hereinnahme ist nicht die einzige Änderung, die Magath an Herthas Startelfstellung vornimmt. Auch Marvin Plattenhardt, Davie Selke, Suat Serdar und Marco Richter rotieren in Berlins Anfangsformation. Aus dem eher passiv interpretierten 4-1-4-1 der Vorwochen wird gegen Augsburg ein 4-2-3-1 mit Boateng auf der Zehner-Position. "Der Trainer hatte mich gefragt, wo ich spielen will und gesagt, ich soll mein Ding machen", verrät Boateng nach dem Spiel. Gegen den Ball verteidigt Hertha in einem 4-4-2, Boateng rückt dann zu Stoßstürmer Selke auf, um Augsburgs Aufbauspiel zu zweit effektiver stören zu können.
Augsburg erwischt den besseren Start, hat sogleich mehr vom Ball, während sich Hertha zunächst auf das Verteidigen und Umschaltmomente beschränkt. In den ersten 20 Minuten passiert dadurch auf beiden Seiten sehr wenig, einzig in der 11. Minute sind die Blau-Weißen etwas im Glück, als FCA-Stürmer Alfred Finnbogason den Ball aus kurzer Distanz den Ball nicht richtig trifft und Keeper Marcel Lotka entschärfen kann.
Ein Spiel nach dem Geschmack Pal Dardais
Es war Pal Dardai, der in seiner ersten Amtszeit als Hertha-Trainer einst sagte, man könne im Fußball ein Spiel auch aus der Defensive heraus kontrollieren. Was der Ungar damit meint: Durch cleveres und leidenschaftliches Verteidigen können Lücken geschlossen werden, die mit noch so viel gegnerischen Ballbesitz nicht geöffnet werden können; das disziplinierte Arbeiten gegen den Ball kann den Ballbesitz des Kontrahenten vergiften und durch Umschaltmomente wie zusätzliches Pressing eigene Gefahr entwickelt werden.
Magath wählt gegen Augsburg solch einen Ansatz. Nachdem die ersten 20 Minuten unbeschadet überstanden sind und die Mannschaft auf diesem Wege Sicherheit gewinnt, nimmt sie aktiver am Spiel teil. Selbstverständlich mittendrin: Kevin-Prince Boateng. Der mit so viel Technik und Spielverständnis gesegnete Straßenkicker verleiht Herthas sonst so krampfigen Kombinationsspiel eine leichtfüßigere Note. Sicherlich spielen die Berliner in Augsburg nicht die Sterne vom Himmel, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und in Perspektive der letzten Spiele wirkt Hertha aber etwas gefälliger. Boateng ist hierbei federführend, er wird von seinen Mitspielern ständig gesucht, kreiert und dirigiert – ein Führungsspieler eben.
Und er geht auch kämpferisch voran. Bei einer Rudelbildung in der 25. Minute steht der "Prince" natürlich im Epizentrum. "Wir haben gekämpft und in den richtigen Momenten Fußball gespielt", resümiert Boateng nach Abpfiff. Tatsächlich wirkt Hertha gegen das so kampfstarke Augsburg noch galliger und gieriger, die Gäste aus Berlin kaufen den Hausherren immer wieder den Schneid ab und kontrollieren so – frei nach Dardai – das Spiel. "Reiß die Mannschaft mit", so Magaths Auftrag für Boateng, den er bravourös erfüllt. Er gewinnt 75 Prozent seiner Duelle, wird so oft wie niemand anderes gefoult.
Serdars Traumtor sichert den Sieg
So steht zur Halbzeit das Fazit zum 0:0, dass Hertha sich den einen Punkt bislang verdient. Die "Alte Dame" zeigt zwar noch recht wenig Spielkultur, dafür aber umso mehr Kampf und somit genau die Attribute, die es im Abstiegskampf nun einmal vordergründig braucht: Leidenschaft, Wille, Galligkeit, Zweikämpfe wie Tore zelebrieren und Widerstandsfähigkeit. Für drei Punkte braucht es jedoch offensiv noch mehr Druck.
Diesen kreiert Hertha in der 49. Minute. Die Berliner kommen sehr energisch aus der Kabine und pressen Augsburg frühzeitig. So auch bei einem Einwurf: Boateng antizipiert diesen, fälscht ihn zu Mitspieler Richter ab, der nach einem Doppelpass mit Selke in den Strafraum durchbricht und auf den durchgelaufenen Serdar spielt. Der Mittelfeldspieler löst es daraufhin technisch herausragend und tunnelt FCA-Keeper Rafal Gikiewicz spektakulär per Hacke zur 1:0-Führung. Hertha hat im richtigen Moment Fußball gespielt.
Drei immens wichtige Punkte – nun warten Stuttgart und Bielefeld
Im Anschluss verteidigt Hertha weiterhin höchst diszipliniert und lässt Augsburg zu kaum nennenswerten Offensivszenen kommen. Stellvertretend hierfür wieder: Boateng. In der 68. Minute fängt er innerhalb weniger Sekunden gleich zwei Bälle hintereinander ab, um letztendlich das Foul zu ziehen und sich anschließend die Liebe seiner Mitspieler abzuholen. Eine Minute später ist der Arbeitstag des Mittelfeldregisseurs beendet, es ist ein guter. Boateng geht am Samstagnachmittag voran und die vorher so verunsicherte Mannschaft folgt ihm, wodurch ein verloren geglaubter Teamgeist und wiederum dadurch eine beachtliche Widerstandsfähigkeit entstehen. Nach seiner Auswechslung dirigiert er weiter, nun von der Bank aus. Es ist sein Spiel.
Hertha lässt sich das 1:0 nicht mehr nehmen und gewinnt das erste Auswärtsspiel der Rückrunde. Es sind vermeintlich überlebenswichtige Punkte, die Hertha am 30. Spieltag auf einen Nicht-Abstiegsplatz hieven und eine zumindest komfortablere Ausgangslage für die kommenden beiden Spiele schaffen. Als nächstes wartet nämlich die direkte Konkurrenz aus Stuttgart und Bielefeld. Es sind die entscheidenden letzten Meter einer verkorksten Saison – tritt Hertha aber wie gegen Augsburg auf, ist sie zumindest noch zu retten. Es scheint die letzte Mission der so langen Karriere Boatengs zu sein, der nach Berlin zurückgekehrt ist, um seinem Verein etwas zurückzugeben – es scheint der Moment gekommen zu sein, dieses Versprechen einzulösen.
Sendung: rbb24, 16.04.2022, 21:45 Uhr