Hertha BSC verpasst die Entscheidung - Unter 100 Prozent geht es nicht

Mit der 1:2-Heimniederlage gegen Mainz 05 hat Hertha die Möglichkeit verpasst, den Klassenerhalt aus eigener Kraft zu packen. Sie ist der Beweis dafür, dass die Berliner nur am absoluten Leistungsmaximum bundesligatauglich sind. Von Marc Schwitzky
Eigentlich hätte man es wissen können. 73.000 Fans im abendsonnengetauchten Olympiastadion, ein Gegner, für den es am 33. Spieltag sportlich um nichts mehr geht, und kurz vor Anpfiff die so dringend ersehnte Versöhnung mit der Ostkurve. Hertha BSC hatte die Möglichkeit, in solch einem schnulzigen Drehbuch den Klassenerhalt aus eigener Kraft zu ergreifen. Schließlich hätten drei Punkte gegen den 1. FSV Mainz 05 gereicht, um den VfB Stuttgart rechnerisch nicht mehr herankommen zu lassen.
Es sind jedoch genau solche Rahmenbedingungen, die Hertha wie kaum ein anderer Fußballverein nicht zu nutzen weiß. Immer dann, wenn es droht, so richtig schön zu werden, greift die "Alte Dame" zielsicher daneben – das Hertha-Syndrom. Es sollte auch am Samstagabend zum Vorschein kommen.
Problematische Aufstellung: Eine Niederlage mit Ansage
Womöglich zeigt auch Trainer Felix Magath bereits erste Symptome. Für das Spiel gegen Mainz setzte er zwar auf das bewährte 4-2-3-1, jedoch mit bemerkenswerten Anpassungen. Linksverteidiger Marvin Plattenhardt und Flügelangreifer Marco Richter verpassten die Partie, ersetzt wurden sie von Marton Dardai und Vladimir Darida, die für die jeweilige Position eigentlich nicht vorgesehen sind. Dardai, der den positionsgetreuen Fredrik André Bjørkan und Maximilian Mittelstädt vorgezogen wurde, hat im Profi-Bereich noch nie als Linksverteidiger gespielt. Darida wurde in der laufenden Saison zwar schon öfter als rechter Mittelfeldspieler eingesetzt, hat seine Tauglichkeit für diese Rolle jedoch nie bewiesen.
Da Suat Serdar einmal mehr als linker Außenspieler eingesetzt wurde, spielte bei Hertha mit Peter Pekarik ein einziger gelernter Flügelspieler, der aufgrund seines Alters deutlich an Dynamik eingebüßt hat. Schon vor Anpfiff stellte sich somit die Frage, wie die Blau-Weißen es bewerkstelligen sollen, offensiv auch nur ansatzweise Druck und Gefahr zu entwickeln.
Herthas Zugriff hält nur 20 Minuten, dann dominierte Mainz
In den ersten Minuten machte Hertha jedenfalls den Eindruck, als seien drei Punkte die einzige Option. Mit dem Anpfiff rannten die Hauptstädter ihre Gegenspieler leidenschaftlich an. Zweikämpfe wurden zelebriert, Bälle grätschend abgefangen - die Herthaner wirkten so, als hätten sie Spaß an der Robustheit des Spiels. So diktierte der Gastgeber die Anfangsphase durch gezieltes Pressing und die Kontrolle über das Mittelfeldzentrum.
Was jedoch von Beginn an fehlte, war die Ruhe und Genauigkeit im eigenen Ballbesitz. In der 4. Minute hätte Davie Selke bereits die Führung erzielen können, wenn er nur noch ein paar Meter mit dem Ball in den Strafraum gezogen wäre und nicht direkt abgeschlossen hätte. Abseits dieser Chance hatte Hertha große Probleme, Ballgewinne in konstruktive Angriffsversuche umzumünzen.
Und so ebbte Herthas aggressive Art nach 15 bis 20 Minuten ertraglos wieder ab. Gegner Mainz hatte sich in die Partie gearbeitet und bessere Antworten auf Berlins einfache Stilmittel gefunden – und sich dafür bereits in der 25. Minute belohnt. Die 05er setzten sich gut auf der linken Abwehrseite Herthas durch, beim Abschluss von Silvan Widmer half Torhüter Marcel Lotka kräftig mit, indem er den Ball am kurzen Pfosten stehend, durchrutschen ließ.
Die Berliner fanden nicht mehr in das Spiel
Mit dem Rückstand wurden Herthas Defizite in der Aufstellung gravierend sichtbar. Ein gelernte Innenverteidiger, der links hinten spielen musste und ein Fünfermittelfeld, das ausschließlich aus Zentrumsspielern besteht, kann nur beim Stand von 0:0 funktionieren. Ist solch eine Elf gefordert, ein 0:1 aufzuholen, wird sie zwangsläufig scheitern. So fehlten Hertha Dynamik, Qualitäten im eins gegen eins, Tiefenläufe und Spieler, die die Breite halten – somit alles, was es braucht, um einen auf Konter lauernden Gegner zu knacken.
Das Spiel gegen den Ball war in dieser Phase nicht das Problem, Herthas Defensivmechanismen sind dank Magath und Co-Trainer Mark Fotheringham mittlerweile in Form gegossen, die Ordnung und Intensität stimmen immer. Mit dem Ball aber wirkte die "alte Dame" verzweifelt. So musste ein berechtigter Elfmeter (Niakhate traf Boyata in die Ferse) kurz vor dem Halbzeitpfiff, den Selke sicher verwandelte (45+5), Hertha retten. Mit dem zwischenzeitlichen 1:1 konnte Hertha angesichts des so schwachen Ballvortrags mehr als zufrieden sein.
Eine verdiente Niederlage
Hertha knüpfte nach dem Pausentee an die Leistung der ersten Halbzeit an – eine schlechte Nachricht. Erneut fehlte es der Mannschaft aus Charlottenburg an Kreativität und Tempo, um die Mainzer Abwehr auch nur ansatzweise herauszufordern. Durch viele Fouls und Nickligkeiten kam keinerlei Spielfluss auf, wobei die Rheinhessen mit Ball weiterhin gefälliger wirkten. Der Doppelwechsel in der 60. Minute – Mittelstädt und Belfodil kamen für Serdar und Boateng – sollte wirkungslos bleiben. Die Umstellung auf ein 4-4-2 hatte am ehesten noch die Folge, dass der Zugriff auf das Mittelfeldzentrum abnahm und Mainz mehr Raum schenkte.
"Wir waren nicht im Spiel, nicht frisch im Kopf, es hat viel gefehlt. Wir mussten das vierte Spiel infolge Vollgas geben, da kann das passieren, es ist nur bitter, dass es im Heimspiel passiert ist", resümierte Boateng nach Abpfiff. Tatsächlich wirkte Hertha nach 70 Minuten irritierend müde, die Vorwochen schienen Spuren hinterlassen zu haben. Aus dem Willen, doch noch den Heimsieg und damit verbundenen Klassenerhalt zu erringen wurde das Bangen vor der Niederlage.
In der 81. Minute sollte der entscheidende Gegentreffer aber fallen: Tousart verlor Gegenspieler Stefan Bell bei einer Ecke aus den Augen; der köpfte den Ball aus kurzer Distanz ins Tor. Ein Pfostentreffer vom eingewechselten Luca Wollschläger (89.) und ein aberkanntes Tor von Selke (90.) konnten das Ergebnis nicht mehr verändern. Am Ende stand die 1:2-Heimniederlage, die aufgrund der Spielanteile in Ordnung ging.
Entscheidung am letzten Spieltag
"Wir waren nicht bei den 100 Prozent, die wir für unser Spiel brauchen", so Geschäftsführer Fredi Bobic nach Abpfiff. Es ist dieser Satz, der eine erschreckende, wenn auch nicht neue Wahrheit ausspricht: Hertha BSC ist im Jahr 2022 nur dann ansatzweise bundesligatauglich, wenn die Mannschaft an ihr absolutes Leistungsmaximum geht und sich der Spielverlauf einigermaßen gnädig zeigt. Auf Unwägbarkeiten kann der so schief zusammengestellte Kader mit all seinen Problemen kaum reagieren. In einem recht normalen Bundesliga-Spiel ist Mainz 05 schlicht um ein Vielfaches besser als Hertha. Umso höher ist es zu hängen, was Trainer Magath in den entscheidenden drei Spielen gegen Augsburg, Stuttgart und Bielefeld aus dieser Mannschaft herausgepresst hat.
Trotzdem hat es nicht gereicht, den Nicht-Abstieg am 33. Spieltag perfekt zu machen. Auch, weil Verfolger Stuttgart sich am Sonntag gegen den FC Bayern zu einem 2:2-Unentschieden kämpfte. So rückten die auf dem Relegationsplatz liegenden Schwaben erneut auf drei Punkte an die Hertha heran und haben noch dazu das deutlich bessere Torverhältnis. Sprich: Will die Hertha den Klassenerhalt am finalen 34. Spieltag aus eigener Kraft perfekt machen, muss sie auswärts in Dortmund zumindest einen Punkt holen. Gelingt dies nicht, müssen Felix Magath und Co. hoffen, dass Stuttgart sein Heimspiel gegen Köln nicht gewinnt.
Sendung: rbb24, 07.05.2022, 21:45 Uhr