Rückblick auf die Saison des 1. FC Union Berlin - Ein paar Tiefen und sehr viele Höhen

Der 1. FC Union Berlin beendet die erfolgreichste Saison der Vereinsgeschichte. Das kommt ihnen bekannt vor? - Zurecht. Der Mannschaft von Urs Fischer gelang dieses Kunststück zum dritten Mal in Folge. Von Till Oppermann
Wer in den letzten drei Jahren über den Weg des 1. FC Union Berlin schrieb, konnte sich vorkommen, wie ein Auftragskünstler aus vergangener Zeit. Aber nur fast. Die Mächtigen der Geschichte engagierten gern Künstler, um sich abbilden zu lassen. Lorenzo de Medici etwa, ein Renaissance-Fürst aus Florenz, litt zeitlebens an Arthrose. Trotzdem erhielt er eine Marmorstatue, die ihn als durchtrainierten Helden darstellt.
Auch Union konnte sich in seinen drei ersten Bundesligajahren vor allem über Lob und Preisungen freuen. Anders als manch antiker Herrscher aber hat Union sich diese Preisungen auch verdient: echte durchtrainierte Helden. Der Hauptmann von Köpenick bleibt vorerst allein auf dem Sockel - Union-Manager Oliver Ruhnert und Trainer Urs Fischer allerdings tun derzeit Köpenick mindestens genauso gut, wie der durchsetzungsstarke preußische Schuster von einst.
Ende im Rausch
Die Fans huldigten ihnen: Nachdem Union die sensationelle Qualifikation für die Conference League aus dem letzten Jahr kurzerhand mit Platz fünf und dem Sprung in die Gruppenphase der Europa League wiederholt hat, feierten tausende euphorisierte Eiserne noch Stunden nach Abpfiff des 3:2-Siegs gegen Bochum vor der Haupttribüne der Alten Försterei. Wie im Vorjahr hatte die Union-Mannschaft um 15-Tore-Stürmer Taiwo Awoniyi, Grischa Prömel und Kapitän Christopher Trimmel ihre Fans durch einen späten Siegtreffer mit kollektivem Siegestaumel beschenkt. Von den letzten sieben Saisonspielen verlor Union keines und siegte sechsmal. "Tut mir leid, dass mir noch kein Wort eingefallen ist, das diese Situation beschreibt", sagte ein überwältigter Urs Fischer nach dem Spiel.
Abgänge ohne Folgen
In anderen Situationen war Fischer im Laufe der Saison weniger ratlos. Zum Beispiel als er drei seiner wichtigsten Spieler verlor. Den Anfang machte Robert Andrich Mitte August. Dessen Wechsel nach Leverkusen brachte Union zwar 6,5 Millionen Euro, kostet Urs Fischer aber seinen wichtigsten Mann in der Mittelfeldzentrale. Aber nach einigen fußballerisch holprigen Wochen schien es, als hätte es den späten Transfer nie gegeben.
Ruhnerts Neuzugänge Rani Khedira und Genki Haraguchi teilten sich die Andrichs Arbeit. Als Abwehrchef Marvin Friedrich am 11. Januar nach Mönchengladbach wechselte, stand Union auf dem 7. Platz, zwei Punkte hinter der Champions League. Am 19. Januar ließen Friedrichs Ex-Mitspieler seinem Abschied eine Gala folgen. Beim 3:2-Achtelfinalsieg im DFB-Pokal hatte Stadtrivale Hertha BSC keine Chance, Union zu schlagen. Friedrichs Nachfolger Dominique Heintz spielte grandiose Pässe, Innenverteidiger Robin Knoche traf zum Sieg.
Der traurige Februar
Im Januar fegte Union durch die Liga. Siege gegen Hoffenheim und Friedrichs Gladbacher brachten am 20. Spieltag einen Champions League-Platz. Gemäß dem Motto "zu schön, um wahr zu sein", folgte ein Dämpfer: „Wir haben einvernehmlich entschieden, Max nicht gegen seinen Willen vertraglich zu zwingen, bei Union zu bleiben, sondern den sportlichen Verlust finanziell angemessen entschädigen zu lassen“, sagte Union-Präsident Dirk Zingler am 30. Januar. Kurz vor Ende der Transferperiode hatte Starspieler Max Kruse ein Angebot aus Wolfsburg erreicht, das der 34-Jährige nicht ablehnen konnte.
Fischers „Unterschiedsspieler“ war weg. Drei verdiente Niederlagen gegen Augsburg, Bielefeld und Dortmund offenbarten den herben Verlust. Um Kruses Kreativität zu kompensieren, hatte Fischer sein bewährtes 2-3-5-System geändert. Sheraldo Becker sollte auf dem Flügel stürmen und nach Ballverlust im Mittelfeld verteidigen. Das funktionierte nicht. Union verlor die Balance.
Rückschlag im Pokal
Aber Urs Fischer wäre nicht Urs Fischer, wenn er für dieses Problem keine Lösung gefunden hätte. Gegen Mainz 05 schob er Becker in den Sturm und brachte mit Haraguchi einen zusätzlichen Mittelfeldspieler. Nach sieben Minuten köpfte ausgerechnet der Japaner die Führung, der FCU gewann mit 3:1. Tage später folgte ein Heimsieg im Pokalviertelfinale gegen St. Pauli. Bayern und Dortmund – die einzigen Mannschaften, die die Eisernen in beiden Ligaspielen besiegen konnten, waren schon ausgeschieden.
Außerdem gewann Union in der Liga das dritte Derby des Jahres mit 4:1 im Berliner Olympiastadion. Laut Grischa Prömel das „geilste Auswärtsspiel“ in seinen fünf Jahren in Köpenick. Wer sollte Union auf dem Weg zum ersten Titel seit 54 Jahren noch stoppen? Die Antwort war RB Leipzig. Durch ein Gegentor in der Nachspielzeit platzte der Finaltraum der eigentlich besseren Eisernen in letzter Sekunde.
Union bedeutet Charakter
Drei Tage danach stand in der Liga das nächste Auswärtsspiel in Leipzig an. Unter maßgeblicher Mithilfe der eingewechselten Kevin Behrens und Sven Michel drehte Union das Spiel mit zwei sehenswertem Toren in den letzten Minuten in einen Sieg um. Die beiden Ü30-Neuzugänge aus der zweiten Liga zauberten mit Hackenpässen und eiskalten Abschlüssen. Allein anhand dieses Satzes könnte man ewige Abhandlungen über das goldene Transferhändchen von Oliver Ruhnert und die taktische Expertise von Urs Fischer schreiben. Man kann es aber auch einfach halten: Unioner zu sein, bedeutet aufzustehen und weiterzumachen. Das gelang der Mannschaft ebenso, nachdem sie im Europapokal Lehrgeld zahlend ausgeschieden war, und es gelang, obwohl drei der besten Spieler ihr den Rücken gekehrt hatten.
Ihr Weg geht weiter: Am 20. Juni bittet Urs Fischer zum Trainingsauftakt. Und auch wenn die nächste Saison ausnahmsweise keine neuen Highlights setzen sollte: Dass Fischer und sein Kollege Ruhnert irgendwann in Bronze gegossen vor der Alten Försterei stehen, sollte man nicht ausschließen.
Sendung: rbb UM6, 15.05.2022, 18 Uhr