Analyse | Union-Sieg gegen Gladbach - Mehr als nur Mentalität

Mo 31.10.22 | 08:18 Uhr | Von Till Oppermann
Union Berlins Julian Ryerson und seine Mannschaft nach dem Sieg gegen Gladbach (Bild: IMAGO/Matthias Koch)
Video: Sportschau | 31.10.2022 | Simon Wenzel | Bild: IMAGO/Matthias Koch

Der 1. FC Union Berlin gewinnt in letzter Sekunde gegen Gladbach. Die Mentalität der Mannschaft bringt ihr mal wieder späte drei Punkte ein. Aber auch fußballerisch beweisen es die Köpenicker ihren Kritikern. Von Till Oppermann

Andrea Pirlo - wohl einer der besten Mittelfeldspieler der vergangenen 20 Jahre - sagte mal: "Fußball spielt man mit dem Kopf, die Füße sind nur das Werkzeug." Dabei bezog er sich selbstverständlich nicht auf wuchtige Kopfbälle wie Danilho Doekhis Siegtreffer für Union Berlin in der siebten Minute der Nachspielzeit des Bundesligaspiels gegen Borussia Mönchengladbach.

Union gewinnt mit Köpfchen

Nein, Pirlo sprach davon, dass sportlicher Erfolg ohne strategisches Denken, eine gute Einstellung und Mentalität nicht möglich ist. Wer eine Erklärung dafür sucht, warum die Eisernen das Spiel gegen Gladbach nach Rückstand drehen konnten, findet einen Teil der Antwort in Aussagen von Unions Rani Khedira und Gladbachs Christoph Kramer.

"Wir genießen es, alle drei Tage spielen zu dürfen", sagte Khedira. Kramer dagegen klagte über "schwere Beine". Die Gastgeber liefen fast acht Kilometer mehr als die Gäste vom Niederrhein. Dabei hat Union in diesem Monat drei Spiele mehr absolviert als die Borussia. "Ich glaube, das war eine brutale Willensleistung", ergänzte Khedira.

Union kann auch Rückstand

Grundsätzlich sollte die Konkurrenz des 1. FC Union – der mit dem Sieg die Tabellenführung zurückeroberte, die Bayern München am Samstag übernommen hatte – einen Blick auf die statistischen Werte des Spiels werfen. Denn die Mannschaft von Trainer Urs Fischer widerlegte gegen Gladbach einen Vorwurf, der ihr nach den Niederlagen in Frankfurt und Bochum gemacht wurde: Union könne nicht mit Rückständen umgehen.

In der zweiten Halbzeit hatte das Team mehr als 62 Prozent Ballbesitz. Khedira war begeistert: "In meinen eineinhalb Jahren hier habe ich noch keine Leistung in diesem Stadion gesehen, wo wir so dominant und so griffig in der gegnerischen Hälfte waren." Urs Fischer stimmte zu: "In der zweiten Hälfte war es echt dominant."

Fischer beweist sein gutes Händchen

Daran war der Trainer selbst nicht unbeteiligt. Die Dominanz der Rot-Weißen nahm ihren Anfang mit einer Entscheidung des Schweizers. Denn lange war Fischers erste Elf zu harmlos. Gladbach stand kompakt, da sei man schwer ins Spiel gekommen, erklärte Khedira und ergänzte: "Wir haben uns mit dem Ball schwergetan, Gladbach stand sehr tief im 4-4-2." Union hatte Probleme, auf den Flügeln durchzubrechen und die Stürmer in der Spitze zu finden. Insbesondere der überspielt wirkende Jordan Siebatcheu war abgemeldet.

Ab der 60. Minute tauschte Fischer deshalb fünf Mal. Sven Michel, Jamie Leweling, Christopher Trimmel und Genki Haraguchi belebten das Spiel, Kevin Behrens traf zum Ausgleich. Alle fünf Neuen hätten Zug nach vorne gebracht, lobte Fischer. Behrens ergänzte: "Jeder ist heiß und will dem Trainer zeigen, dass er da ist." Nach den Wechseln schoss Union zwei Tore, hatte neun zu null Torabschlüsse, 82 Prozent zu 55 Prozent Passgenauigkeit und gewann mehr als 70 Prozent der Zweikämpfe.

Union zeigt Mentalität

Insbesondere der letzte Wert unterstützt Khediras Rede von der "brutalen Willensleistung". "Wir sind eine Mentalitätsmannschaft", ergänzte Kevin Behrens. Die dicke Beule auf seiner Wange verlieh dieser Aussage zusätzliches Gewicht. Denn bei seinem Kopfballtor nach einer Halbfeldflanke von Diogo Leite traf ihn die Faust des herauseilenden Gladbacher Torhüters im Gesicht. Behrens konnte den Treffer deshalb kaum bejubeln - die Schmerzen waren zu stark.

Nach seinem Tor entfaltete die Alte Försterei ihre volle Wucht. "Die Fans haben uns zum Sieg getragen", meinte Khedira. Behrens fügte an: "Dass wir das noch gedreht haben, ist einfach brutal, man hört es ja: geile Stimmung." Allerdings sollte niemand den Fehler machen, den Sieg nur auf die Mentalität und die Unterstützung von außen zu schieben.

Union löst es spielerisch

Denn trotz des Rückstandes verlor Fischers Team nicht den Kopf. Während sie Druck auf Gladbach aufbauten, spielten die Unioner mit einer klaren Idee Fußball. Durch viele Spieler im Strafraum wurden die Borussen gebunden. Je tiefer Gladbach verteidigte, desto freier konnten die Unioner Flanken in den Strafraum spielen. Leite spielte seinen Ball vor Behrens Tor als Innenverteidiger von rund 30 Metern vor dem gegnerischen Tor in den Strafraum.

Man habe um Gegentore gebettelt, kritisierte Kramer: "Wenn man sich gegen Union Berlin zu tief fallen lässt, muss man eben Flanken sehr gut verteidigen." Das gelang weder bei Behrens Treffer noch vor Christopher Trimmels Abseitstor und auch nicht bei der finalen Ecke vor Doekhis Siegtreffer.

Seine Mannschaft sei klar in ihrem Spiel geblieben, lobte Fischer: "Kaum lange Bälle, wir haben es spielerisch versucht, das war eine fantastische zweite Hälfte." Wer den tabellarischen Höhenflug der Unioner für Glück hält, sollte sich von der Tordifferenz belehren lassen. Neben den Bayern ist der 1. FC Union das einzige Team mit einer zweistellig positiven Differenz.

Momentaufnahme statt Klassenerhalt

Wie nach den letzten Heimspielen sangen die Fans, dass deutscher Meister nur der FCU werde. Kevin Behrens fand es lustig: "Ich finde es schön, dass die Fans das mit Humor nehmen und ihren Spaß haben." Trotzdem wisse die Mannschaft die Ergebnisse einzuordnen und denke weiter von Spiel zu Spiel.

In der Vergangenheit wurde über Unions Tiefstapelei gespottet, als die Mannschaft um Europa spielte, aber stoisch vom Klassenerhalt sprach. Urs Fischer präsentiert angesichts von 26 Punkten aus zwölf Spielen die neue Sprachregelung des Vereins: "Es handelt sich um eine Momentaufnahme."

Sendung: rbb24, 30.10.2022, 21:45 Uhr

Beitrag von Till Oppermann

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