Kommentar | Herthas drohender Abstieg - Scheitern als Chance

Mi 17.05.23 | 17:42 Uhr | Von Fabian Friedmann
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Wahre Liebe kennt keine Liga - Fans von Hertha BSC Berlin halten im Mai 2010 zu ihrem Verein trotz Abstieg in die 2. Bundesliga. (Bild: IMAGO / Contrast)
Bild: IMAGO / Contrast

Ein Bundesliga-Abstieg gilt gemeinhin als sportlicher Super-Gau. Aus der Sicht eines Fans kann er aber auch Vorteile haben. Unser Kommentator Fabian Friedmann ist Nürnberger und hat das Desaster, das Hertha bevorsteht, schon häufiger erlebt.

So mancher britische Trainer hatte die Gabe, Fußball und das ganze Theater drumherum schnörkellos auf den Punkt zu bringen. Unvergessen der altehrwürdige Liverpool-Coach Bill Shankly, der einst philosophisch über den Sport apostrophierte: "Manche Leute glauben, dass Fußball eine Frage von Leben und Tod ist. Ich bin von dieser Einstellung sehr enttäuscht. Ich kann Ihnen versichern, dass es viel, viel wichtiger ist."

Nun soll es hier um den drohenden Abstieg von Hertha BSC gehen, also zitiere ich an dieser Stelle lieber den ehemaligen englischen Nationalspieler und heutigen TV-Experten Gary Neville: "In meinen 20 Jahren im Fußball hatte ich das Glück, noch nie einen Abstieg erlebt zu haben. Und während an der Spitze der Liga der Erwartungsdruck herrscht, herrscht am Ende Angst und Unruhe, was fast noch schlimmer ist."

Negativer Druck seit Jahren

Was Neville wohl sagen wollte: Es gibt sportlichen Druck, der ist positiv, weil man etwas gewinnen kann - und es gibt den negativen, der dort herrscht, wo es um die sportliche Existenz geht. Hertha BSC ist diesem negativen Druck seit Jahren ausgesetzt. Auf hohe Ambitionen folgte Abstiegskampf auf Abstiegskampf, der Trainerverschleiß ist immens, das alljährliche Frustpotenzial hoch und Ultras stürmen auch schon mal den Trainingsplatz, um ihrem Ärger Luft zu machen.

All das beobachte ich aus der gesicherten Außenansicht eines Journalisten, dessen emotionale Verbundenheit mit der Hertha sehr gering ist. Aufgrund meiner fränkischen Herkunft halte ich es mit dem 1. FC Nürnberg, dem "Glubb" - dem Rekordabsteiger der Bundesliga. Der "Ruhmreiche", wie ihn meine Freunde und Nürnberger ironisch nennen, spielt seit der Saison 2019/20 in der 2. Bundesliga – mal wieder.

Selbstreinigung und halbleere S-Bahnen

Und mit dieser Expertise kann ich sagen, jeder Abstieg ist zwar be..., aber man kann, nein, man muss ihn auch als Chance begreifen. Ich wage sogar die These: Man kann sich als Herthaner auf die zweite Liga freuen, aber dazu später mehr.

Zunächst einmal soll hier auf die selbstreinigenden Effekte eines sportlichen Niedergangs hingewiesen werden. So genannte Event-Zuschauer, die ins Stadion gehen, weil sie das "Event" Bundesliga als gesellschaftlich relevant betrachten und sich deshalb gerne mit einem Stadionbesuch schmücken, diese "Fans" sind zumindest im Nürnberger Max-Morlock-Stadion kaum noch anzutreffen. Echte und nicht aufgesetzte Vereinsliebe, wohin man blickt.

Ein nur halb volles Olympiastadion an einem Zweitliga-Spieltag hat darüber hinaus auch praktische Vorteile: keine langen Schlangen vor den Bierständen und Toilettenhäuschen, keine nervigen Anfahrten in voll besetzten S-Bahnen und die potenzielle Aussicht gegen Holstein Kiel ein paar Hertha-Treffer und am Ende einen Heimsieg zu bejubeln.

Welcher Herthaner hätte nicht Lust, auf einem von Badischem Wein oder Berliner Bier geschwängerten Fanfest mit einigen KSC-Fans anzustoßen, um in gemeinsamen, erfolgreichen Erinnerungen zu schwelgen?

Ein Treffen mit alten Freunden

Darüber hinaus ist die 2. Bundesliga attraktiv: der Hamburger SV (wenn der Aufstieg wieder schief geht) und der FC St. Pauli, Kaiserslautern, Rostock, Magdeburg, Düsseldorf, Braunschweig und natürlich mein 1. FC Nürnberg – deutsche Fußball-Romantiker verdrücken schon bei der Nennung dieser Namen die ein oder andere Freudenträne.

In der 1. Bundesliga würde hingegen nächste Saison wohl ein Heimspiel gegen den 1. FC Heidenheim winken. Will man das als Hertha-Fan? Gut, das Hauptstadtderby wird fehlen, aber auch dieser Verlust ist verschmerzbar, hatte man dort zuletzt wenig gerissen.

Darüber hinaus kann der geneigte Hertha-Fan nach zehn Jahren in der 1. Bundesliga auch wieder neue Stadien entdecken – oder einfach seine alten Freunde wiedertreffen. Hier darf der Karlsruher SC nicht unerwähnt bleiben. Mit dessen Fanszene verbindet die Herthaner seit den 1970er Jahren eine innige Freundschaft, und der KSC spielt nun mal in jener zweiten Liga. Welcher Herthaner hätte nicht Lust, auf einem von Badischem Wein oder Berliner Bier geschwängerten Fanfest mit einigen KSC-Fans anzustoßen, um in gemeinsamen, erfolgreichen Erinnerungen zu schwelgen? Eben.

Der negative Druck wäre endlich weg

Und da wäre noch der wichtigste Punkt. Womit wir wieder beim Neville-Zitat vom Anfang wären. Der verdammte negative Druck wäre endlich weg. Klar, Hertha sollte aufgrund seiner Finanzmisere mittelfristig den Wiederaufstieg anpeilen, aber nicht um jeden Preis. Und dass ein großer Traditionsverein in der zweiten Liga überleben und sein Stadion Woche für Woche füllen kann, beweist momentan der Hamburger SV – in seinem fünften Jahr im Unterhaus. Gut, den Spott hat der HSV inklusive. Aber da sollte jeder Fan drüberstehen.

Ich wünsche den Herthanern diesen Abstieg nicht. Deshalb möchte ich denjenigen, die sich nun fragen, was dieser Franke hier für einen Schwachsinn von sich gibt, von wegen "Abstieg als Chance", kurz auf meine letzte Auswärtsfahrt mit dem "Glubb" nach Magdeburg mitnehmen.

Knapp über eine Stunde entspannte Anfahrt per Zug, trotz Bahn-Verspätung noch rechtzeitig in den voll besetzten Auswärtsblock, überragende Stimmung. Überschaubare Schlangen vor Klo und Bierstand. Nach zweimaligem Rückstand zurückgekommen. Punkt mitgenommen. Englische Groundhopper im Zug kennengelernt und über Vereinsliebe philosophiert. Schließlich um 1 Uhr in der Nacht zufrieden ins Bett gefallen. So kann sich die 2. Bundesliga anfühlen.

Sendung: rbb24, 17.05.2023, 18 Uhr

Beitrag von Fabian Friedmann

16 Kommentare

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  1. 16.

    Ja das ist wahres Fantum. MAN wechselt nicht einfach den Verein, weil der nicht so erfolgreich ist, wie andere. Deshalb war, bin und bleibe ich Schalker. Das werden die "Anhänger" von FCB oder gar RBL NIE begreifen. Ist mir eh schleierhaft, weshalb manche Leute so einem Konstrukt, wie den Einwegdosen aus Leipzig auf den Leim gehen. Glück Auf!

  2. 15.

    Die Fans machen aus der Not eine Tugend, aber letztendlich ist Hertha in dieser Position, weil die Leistung nicht stimmte und jetzt sollte man daran ehrlich arbeiten.

  3. 14.

    Kann Ihnen doch egal sein.
    Hauptsache Sie sind glücklick und Hertha spielt nicht mehr in der ersten Liga.

  4. 13.

    Mal gespannt ob es auch so ist, sollte die Lizenz entzogen werden
    Dann spielt man in noch tieferer Klasse
    Ob da die Fans immernoch in Scharen zum Sportplatz pilgern
    Verdient wäre es nach jahrelanger Mißwirtschaft ( 375 Millionen
    in den Sand gesetzt ) und sehr hohen Schulden
    Naja abwarten, ist ja noch nicht das letzte Wort gesprochen
    Die Fans können da eh nur zuschauen

  5. 12.

    Nun, wenn es spielerisch nicht klappt, bleibt die Hoffnung, dass man von den Felern der Anderen schmarotzen kann.

  6. 11.

    Ein Verein wird immer nur durch Finanzgebaren und deren einhergehenden falschen Entscheidungen vernichtet. Und die alte Dame stand schon mehrfach vor dem Bankrott. Ich war schon zu Herthaspielen ins Stadion gegangen, die für Hertha mietfrei waren, weil es weniger als 1000 zahlende Zuschauer gab. 2.Bundesliga!
    Und erinnern wir uns an die Ausraster beim Lokalderby in der Saison 21/22. Sind das die wahren Fans?

  7. 10.

    Herthas gute Nachwuchsarbeit - trotz der unumgänglichen finanziellen Einschnitte - könnte mehr Talente ins Team "spülen", die mit Aussicht auf Spielzeit (die sie in der 1. Bundesliga nie bekommen hätten?) die Mannschaft bereichern würden. Wenn dann die ganzen "Eventies"/Claqeure im Oly fehlen, könnte auch das furchtbare Eventgebaren (hysterische Mannschaftsbegrüßung, peinliche Halbzeitgewinnspiele, Werbung während des Spiels, z.B. Präsentation von Ecken/Auswechslungen...) wegfallen.

  8. 9.

    Nun, wenn es spielerisch nicht klappt, bleibt die Hoffnung, dass man von den Felern der Anderen schmarotzen kann.

  9. 8.

    Als Neutraler Kommentator,haben sie das für und wieder. Sehr gut geschrieben und beschrieben.
    Es könnte tatsächlich noch tiefer gehen,wenn die Lizenz aus bekannten Gründen nicht gegeben wird.
    Aber auch dann bleibe hoffentlich nicht nur ich der Hertha treu.
    Aber natürlich würde man sich über Liga zwei mehr freuen.

  10. 7.

    In der nächsten Saison 2x im Olympiastadion gegen Hamburger Vereine, da freue ich mich drauf.

  11. 6.

    Exakt, dass verstehen ja auch die meisten, bis auf die Hetzer und Motzer.
    Die Fans stehen ihrem Verein erbittert Beiseite, unabhängig von der Liga.
    Nur die kleinen Aufwiegler vertreten den Standpunkt, ein Abstieg Herthas
    wäre so etwas wie eine Unabdingbarkeit.
    In der zweiten Liga spielen sie dann ohenhin wieder um den Aufstieg.

  12. 5.

    Auch 1860 war mal der Stolz der Münchener. Und dann kamen die Bayern. Nichts ist ewig. Ja wenn da nicht auch noch die dritte Liga wäre. Denn auch in der 2. Liga gewinnt niemand einfach so. Deshalb, das meine ich wirklich nächste Saison erst mal Punkte gegen den Abstieg sammeln. Und junge Spieler aufbauen, dann die folgende Saison und in der oberen Hälfte festsetzen. Und wenn die Hertha dann immer noch in die erste Liga will, einfach Tschüss sagen zum HSV.

  13. 4.

    Als Anhänger von Werder Bremen habe ich vor zwei Jahren, dem Abstieg in die 2. Liga, gesagt, dass dort auch guter Fußball mit ordentlichen Vereinen gespielt wird. Das stimmt(e). Aber noch besserer Fußball wird in der 1. Liga gespielt. Jeder Niederlage in der 1. Liga ist besser als ein Sieg in der 2. Liga!

  14. 3.

    kann mich euch nur anschließen......auch die zweite Liga kann schön sein.:-)

  15. 2.

    Sehr schöner Beitrag, Herr Friedmann. Ich sehe das eigentlich auch so. Nicht zu vergessen, da ich in Hessen wohne, kann ich ein Spiel meiner Hertha ab und an Samstags im Free TV, auf Sport 1, live sehen und darf wieder (hoffentlich) öfter mal einen Sieg bejubeln. Danke für's Mutmachen.

  16. 1.

    ... gut geschriebener Kommenatar, der etwas die Hoffnung schüren und den Abstiegsschmerzt lindern soll.
    Aber es wird leider so richtig abwärts gehen, mit allem drum und dran.
    Ich hoffe, die Hertha erholt sich trotzdem wieder und kommt zurück.

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