Fehler bei der Beweisführung - Seniorin für 80 Euro Beute getötet? - Fall aus Cottbus wird neu verhandelt

Im Dezember 2016 wurde die Rentnerin Gerda K. in ihrer Cottbuser Wohnung getötet. Das Landgericht Cottbus sprach den Angeklagten in einem ersten Prozess frei. Doch der Bundesgerichtshof hob den Freispruch auf. Nun wird der Fall neu aufgerollt. Von Lisa Steger
Der Tod erwartet Gerda K., als sie mittags vom Einkaufen zurückkehrt. "Noch bevor sie sich die Schuhe ausziehen konnte, wurde sie im Flur-/Küchenbereich ihrer Wohnung überfallen und nach heftiger Gegenwehr erwürgt", heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu dem Fall vom Dezember 2016 (Aktenzeichen: 6 StR 120/21).
Der Täter bricht der 82 Jahre alten Seniorin mehrere Rippen. Eine Rippe verletzt dabei die Herzaußenwand: "Die Rippenbrüche können durch ein Knien oder Sitzen des Täters auf ihrem Brustkorb entstanden sein. Die Geschädigte wies zahlreiche Hämatome auf", heißt es in der Urteilsbegründung vom Mai 2022. Zuletzt habe der Mörder Gerda K. eine Plastiktüte über den Kopf gezogen; das sei aber nicht die Todesursache gewesen.
Der Täter durchwühlt auch die Wohnung und stiehlt Geld. Gerda K. stirbt mutmaßlich wegen 80 Euro.
Empörung in Cottbus
Drei Monate später nimmt die Polizei einen Nachbarn der Frau unter dringendem Tatverdacht fest: Es ist Ahmed A., ein damals 17 Jahre alter Syrer, der 2015 als Flüchtling nach Cottbus gekommen war.
In den sozialen Medien kochen die Emotionen hoch. Der Cottbuser Oberbürgermeister Holger Kelch (CDU) sagt dem "Tagesspiegel": "Ein einzelner junger Mann hat nach derzeitigem Erkenntnisstand Gastfreundschaft, Offenheit und Toleranz in Cottbus aufs Brutalste und Schändlichste missbraucht." Er betont aber auch, man dürfe aber nicht alle Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen. Der Oberbürgermeister erhält daraufhin zahlreiche Hassmails. Wochenlang ist der Fall Gerda K. Thema auf Demonstrationen des Vereins "Zukunft Heimat", den der Verfassungsschutz inzwischen als "erwiesen rechtsextremistisch" einstuft.
Nichtöffentlich, aber unter Beobachtung
Im Oktober 2017 beginnt der Mordprozess vor einer Jugendstrafkammer des Landgerichts Cottbus - unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat erst 17 Jahre alt ist. Gut zweieinhalb Jahre soll er dauern.
Im Juni 2019 erstellen Experten des Bundeskriminalamtes ein Gutachten, in dem sie der Polizei Fehler attestieren: Sie habe DNA-Spuren am Tatort nicht richtig gesichert. Einen Monat später kommt Ahmed A. nach zwei Jahren und vier Monaten aus der Untersuchungshaft frei - wegen der Dauer der Haft und weil ein Urteil noch nicht absehbar ist.
Unter dem Motto "Ein Opfer zweiter Klasse?" ruft der Verein "Zukunft Heimat" abermals zu einer Demonstration auf. Doch empörte Reaktionen kommen beileibe nicht nur von dem zweifelhaften Verein. "Ich bin entsetzt über die Entlassung des Tatverdächtigen aus der Untersuchungshaft", schreibt der CDU-Landtagsabgeordnete Michael Schierack auf Facebook. "Dies ist für viele Menschen und auch für mich nicht nachvollziehbar. Warum kann in Brandenburg nicht in angemessener Zeit ein Strafverfahren mit einem Urteil geregelt abgeschlossen werden?"
Erstes Urteil im Zweifel für den Angeklagten
Als die Staatsanwaltschaft gegen die Freilassung Beschwerde einlegt – erfolglos, wie sich zeigt - schreibt CDU-Fraktionskollege Danny Eichelbaum auf Facebook: "Die Freilassung des mordverdächtigen Syrers aus der Untersuchungshaft ist für die Bürger nicht nachvollziehbar."
Ahmed A. muss allerdings nicht mehr in Untersuchungshaft und im Mai 2020 spricht ihn das Landgericht Cottbus frei (Aktenzeichen: 23 Ks 1/17) - im Zweifel für den Angeklagten: Die DNA-Spuren seien nicht tragfähig gewesen, heißt es. Spuren des Angeklagten an der Kleidung des Opfers hätten auch auf anderem Weg dorthin gelangen können als durch eine Tat, zum Beispiel durch das Treppenhaus - schließlich seien beide Nachbarn gewesen.
Langer Instanzenweg
Die Staatsanwaltschaft Cottbus hatte zehn Jahre Haft gefordert, die höchstmögliche Strafe nach dem Jugendstrafrecht. Sie geht in Revision.
Erst zwei Jahre später, im Mai 2022, verkündet der sechste Strafsenat des Bundesgerichtshofs sein Urteil: Er hebt den Freispruch auf - und verweist den Fall zur Neuverhandlung an eine Jugendstrafkammer des Landgerichts Neuruppin. Vom BGH heißt es auf rbb-Anfrage zu der langen Frist, die Staatsanwaltschaft Cottbus habe ihre Revision erst im April 2021 schriftlich vorgelegt. Hinzu sei gekommen: Der BGH-Senat habe ein eigenes Gutachten eingeholt zur Frage, wie DNA-Spuren übertragen werden können.
Das Landgericht Neuruppin setzt den Prozess zunächst für den Februar 2023 an. Doch weil zunächst unklar ist, welche Schöffen eingesetzt werden sollen, hebt das Gericht diese Termine wieder auf.
Der jetzt beginnende Neuruppiner Prozess gegen Ahmed A. wird – wie der erste Anlauf in Cottbus - unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, weil er 2016 noch minderjährig war.
Angeklagter ist vorbestraft
Seit seinem Freispruch 2020 kommt Ahmed A. noch zwei Mal in Kontakt mit der Justiz. Im Jahr 2021 verurteilt ihn das Landgericht Cottbus zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung, wie die "Lausitzer Rundschau" berichtet. Ahmed A. hat neun Tage nach seinem Freispruch im Fall Gerda K. einen Laden überfallen, die Verkäuferin mit einem Messer bedroht und zu Boden gestoßen, anschließend 110 Euro aus der Kasse gestohlen.
Einen Freispruch bekommt Ahmed A. im September 2022 im Landgericht Halle: Es geht um einen Angriff auf eine Prostituierte. Er soll sie geschlagen und mit einem Messer bedroht haben. Allerdings erscheint die Frau nicht zum Prozess. Auch die Staatsanwaltschaft habe auf Freispruch plädiert, teilte Verteidiger Christian Nordhausen dem rbb mit.
Vernichtende Kritik des BGH am Cottbuser Landgericht
Nun geht es erneut um den Fall der getöteten Gerda K. In dem anstehenden Prozess in Neuruppin muss sich das Gericht detailliert mit der Beweisführung und den DNA-Spuren befassen. In seiner Urteilsbegründung hatte der Bundesgerichtshof dem Landgericht Cottbus ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: "Die Beweiswürdigung (…) ist lückenhaft", heißt es da. Das Gericht habe die DNA-Spuren falsch eingeordnet. So gab es laut BGH an der Hose des Opfers eine Spur, die nur in väterlicher Linie weitervererbt wird. Doch nichts deute darauf hin, dass männliche Verwandte des Angeklagten, etwa seine Brüder, in der Wohnung gewesen seien.
Das Landgericht Cottbus habe sogar das Gutachten des eigenen Sachverständigen falsch interpretiert. Dieser habe ausgeführt, dass die Übertragung der Spuren - zum Beispiel über das Treppenhaus - sehr unwahrscheinlich sei. Die DNA des Angeklagten sei aber nicht nur an der Leiche, sondern sogar an der Geldbörse gefunden worden. Der vom BGH beauftragte Gutachter bestätigte das, führt die Urteilsbegründung aus.
Prozess bis Anfang Januar angesetzt
Damit nicht genug: DNA-Spuren des Angeklagten gab es auch direkt an den verletzten Körperteilen, schreibt der BGH. Und: In der Wohnung des Opfers seien keine DNA-Spuren von anderen Männern, etwa von Polizisten oder Rettungskräften, gefunden worden. Nur die des Angeklagten.
Es sieht also nicht gut aus für Ahmed A. Im Prozess sind Termine vorerst bis Anfang Januar angesetzt.
Sendung: Antenne Brandenburg, 06.10.2023, 08:00 Uhr