Fazit | 32. Filmfestival Cottbus - Von Brüdern und Geburtshelferinnen

So 13.11.22 | 11:20 Uhr | Von Fabian Wallmeier
Szene aus dem Wettbewerbsbeitrag "Luxembourg,Luxembourg" von Antonio Lukich.(Quelle:Fore Films)
Audio: Antenne Brandenburg | 13.11.2022 | Josefine Jahn | Bild: Fore Films

Der Wettbewerb des Filmfestivals Cottbus war geprägt von sehr unterschiedlichen Familiengeschichten - und drei herausragenden älteren Schauspielerinnen. Ausgezeichnet wurden leider nicht unbedingt die besten Filme des Jahrgangs. Von Fabian Wallmeier

Was tun, wenn ein geliebter Mensch versucht hat, sich das Leben zu nehmen? Dieser Frage geht der Film "Safe Place" nach, der am Samstag mit dem Hauptpreis des Filmfestivals Cottbus ausgezeichnet worden ist.

Der Kroate Juraj Lerotić hat, wie er sagt, mit dem Film eigene Erfahrungen aus seine Familie verarbeitet - und gleich eine der Hauptrollen übernommen: Er spielt einen jungen Mann, der seinen Bruder nach einem Suizidversuch gerade noch rechtzeitig findet und sich nun zusammen mit seiner Mutter um den labilen Bruder kümmern und mit einem kaum funktionierenden psychiatrischen Versorgungssystem umgehen muss.

Auf der Grundlage des eigenen Lebens ein Drehbuch schreiben, selbst Regie führen und die Hauptrolle übernehmen - das könnte leicht zu viel des Guten werden. Doch Lerotić hat den Film weitgehend im Griff - und verwischt zum Glück in zwei Szenen ganz bewusst die Grenzen zwischen Film und Realität.

Filmszene aus dem Wettbewerbsbeitrag "Bread and Salt" von Damian Kocur.(Quelle:Studio Munka)
Filmszene aus "Bread and Salt" von Damian Kocur. | Bild: Studio Munka

Bier und rassistische Gewalt

Für eine weitere Brüdergeschichte gab es den Preis für die beste Regie: In "Bread and Salt" erzählt der Pole Damian Kocur von einem Sommer in der Provinz. Der ältere Bruder ist vom Klavierstudium aus Warschau zurückgekehrt und lässt sich mit seinem ebenfalls musisch begabten, aber auf der Stelle tretenden Bruder durch den Alltag treiben. Der ist geprägt von Biertrinken, Rumpöbeln - und von rassistischer Hetze und Gewalt gegen die Betreiber eines Imbisses.

Die beiden Hauptdarsteller (auch im echten Leben Brüder: Tymoteusz und Jacek Bies) sind zwar toll. Aber ansonsten gefällt sich der Film ein bisschen zu sehr in seiner (sehr problematischen) Gegenüberstellung von Hochkultur und rassistischem Provinzstumpfsinn, die in einer absurd verkitschten Täter-Opfer-Umkehr in der letzten Filmszene mündet. Mehr sei hier nicht verraten.

Eines der ganz großen Regie-Talente

Um ein weitaus agileres Brüderpaar geht es in "Luxembourg, Luxembourg": Antonio Lukich erzählt mit schnellen Schnitten, gut sitzenden Gags und großer Spielfreude von zwei Zwillingen auf dem Weg zu ihrem Vater. Der war seit Jahren verschwunden und liegt nun in Luxemburg im Sterben. Der eine Bruder ist ein Kleinkrimineller und Busfahrer, der andere ein Polizist. Mit so einer Konstellation lässt sich natürlich einiges machen - und Lukich verwendet den Großteil des Films auf diese Exposition, statt sich gleich auf ein Roadmovie zu fokussieren.

Warum auch nicht? Denn was er aus dem Alltag der Brüder zu berichten hat, ist rasant erzählt und macht großen Spaß. Eine ganz so konzentrierte und einfallsreiche Leistung wie sein Debüt "Die Gedanken sind frei" (das er 2019 in Cottbus vorstellte) ist Lukichs zweiter Film zwar nicht - trotzdem macht der Ukrainer damit noch einmal klar, dass er eines der ganz großen Regietalente im europäischen Kino ist.

Ausgestellte Künstlichkeit

Der Wettbewerb des Festivals war in diesem Jahr nicht nur voll von schwierigen Brüderbeziehungen, sondern auch von allerlei anderen Familienproblemen. Darunter sind einige Filme, die - wie auch "Luxembourg, Luxembourg" - dem Gewinnerfilmen stilistisch und darstellerisch deutlich überlegen sind.

"The Word" etwa erzählt formstreng und stilbewusst von einer Familie, die von der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 betroffen ist. Ein Notar, der sich weigert, in die Kommunistische Partei einzutreten, wird von Parteifunktionären unter Druck gesetzt und fällt immer tiefer in eine lähmende Depression.

Regisseurin Beata Parkanová findet starke, farbsatte Bilder und ungewohnte Kameraausschnitte, um zu zeigen, wie das Politische ins Private wirkt. Ein kluger, stilbewusster Film über die Klarheit des Wortes und die Schönheit des stillen Widerstands.

Die ausgestellte Künstlichkeit, mit der die Bilder aufgeladen sind, lassen den Film zugleich über eine rein politische Botschaft, ein rein historisches Lehrstück hinaus wachsen. Zwischen den Szenen zeigt sie meisterliche Porträts im Polaroid-Stil, die die Protagonist:innen und Accessoires des gerade Gezeigten noch einmal neu akzentuieren.

Filmszene aus dem Wettbewerbsbeitrag "Fools" von Tomasz Wasilewski.(Quelle:Extreme Emotions)
Filmszene aus "Fools" von Tomasz Wasilewski. | Bild: Extreme Emotions

Unangenehm und meisterhaft

Der beste Film des Wettbewerbs ist gleichzeitig einer der kunstvollsten und einer der unangenehmsten: Der Pole Tomasz Wasilewski entblättert in "Fools" vor einer unwirklich schön strahlenden Ostseekulisse und mit unvergesslich aparten Set-Designs ein schmerzhaftes Familiendrama. Eine ältere Frau holt gegen den sachten Widerstand ihres jüngeren Mannes ihren unheilbar kranken Sohn zu sich nach Hause, um ihn zu pflegen.

Die fast unmenschlichen Schreie des nicht mehr des Sprechens mächtigen Sohnes bekommt man nicht so schnell wieder aus dem Kopf. Und auch das Geflecht aus Inzest und Eifersucht, das den Zuschauer:innen nach und nach entwirrt wird, ist nicht leicht zu verdauen. Es ist ein großes Kunststück, dass Wasilewski und seinen Darsteller:innen bei all dem ein letztlich fast zarter Film geglückt ist - und er gleichzeitig große, ästhetisch breit aufgetragene Kinokunst auf die Leinwand gemalt hat.

Darstellerisch war das 32. Filmfestival Cottbus ganz klar von den herausragenden Leistungen dreier nicht mehr ganz junger Frauen geprägt, die - was für ein seltsamer Zufall! - alle drei Geburtshelferinnen spielen, wenn auch der Beruf in allen drei Filmen eher Nebensache ist.

Dorota Kola verleiht in "Fools" ihrer Figur mit stoischer Präsenz eine Würde und Wahrhaftigkeit, die bei der unangenehmen Thematik alles andere als selbstverständlich ist. Dorota Pomykała spielt in "The Woman on the Roof" mit leiser Pointiertheit eine viel dezentere Figur: Ihre Mira kämpft sich nur sehr zaghaft aus ihrem festgefahrenen Leben heraus.

Chance vertan

Die dritte im Bunde kann dagegen richtig aus dem Vollen schöpfen: Ksenija Marinkovićs darf in "Have You Seen This Woman?" ihre Figur gleich in mehreren Versionen spielen. Ihre Draginja ist im ersten Teil eine Staubsaugervertreterin, im zweiten eine Hebamme, die einen Säugling klaut, und im dritten eine Obdachlose. Ihre Lakonik, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Genauigkeit halten den ansonsten etwas wirren Film zusammen.

Doch die Jury hat den Preis für die beste darstellerische Einzelleistung unverständlicherweise an keine dieser drei herausragenden Frauen vergeben. Sie entschied sich für Iulian Postelnicu in Paul Negoescus "Men of Deeds". Die recht grobgeschnitzte Satire über Korruption im ländlichen Rumänien gibt ihm nicht die Möglichkeit, seiner Figur verschiedene Schattierungen abzugewinnen. Er spielt den Polizisten Ilie, der dem vom verbrecherischen Bürgermeister dominierten Machtgefüge gern seine positiven Seiten abgewinnt, sich dann aber allmählich auf seine eigentliche Aufgabe als Gesetzeshüter besinnt. Postelnicu spielt das zwar witzig und dem Film angemessen überdreht - aber trotzdem: Schade, hier hat die Jury eine Chance vertan.

Offenlegung: Das Preisgeld für die beste Regie (7.500 Euro) wurde auch in diesem Jahr vom rbb gestiftet. Die Entscheidung über die Preisvergabe oblag wie immer ausschließlich der Jury.

Sendung: Radioeins, 13.11.2022, 8:37 Uhr

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