Fazit | Filmfestival Cottbus - Der Wettbewerb der Mikrokosmen

So 07.11.21 | 10:48 Uhr | Von Fabian Wallmeier
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Filmfestival Cottbus (Quelle: Picture Alliance/Andreas Franke)
Bild: Picture Alliance/Andreas Franke

Ein heruntergekommenes Hotel, ein Zugabteil und ein Frauenknast: Im Cottbuser Wettbewerb dominierten dieses Jahr Filme, die einen konzentrierten Blick auf das Kleine richten, anstatt ihn für das Große zu weiten. Von Fabian Wallmeier

Der Wettbewerb Spielfilm des Filmfestivals Cottbus war in diesem Jahr vor allem eine Schau der Mikrokosmen. Kaum ein Film macht ein großes Panorama auf, vielmehr geht es um die Konzentration auf ein Milieu, eine Familie, ein Soziotop, einen Ort.

"The Staffroom" (Sonja Tarokić) etwa zeigt sehr genau die Strukturen und Machtverhältnisse in einem Lehrerzimmer auf, "Orchestra" (Matevž Luzar) porträtiert mit leichter Hand und sanfter Melancholie den Mikrokosmos einer slowenischen Dorf-Blaskapelle auf Österreich-Tournee. "Spiral" (Cecilia Felméri) spielt fast ausschließlich an einem abgelegenen Waldsee - und lässt dort ein Paar auf eine Katastrophe zusteuern.

Auch der mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichnete Film passt in diese Reihe: "107 Mothers" (Peter Kerekes) zeigt in halbdokumentarischer Anmutung eine Gruppe von Frauen, die in einem Gefängnis in Odessa Kinder bekommen. Der nüchterne Tonfall des Films schärft den Blick auf einen ganz speziellen Mikrokosmos: Eine Welt, in der Mütter ihre Kinder nur stundenweise und unter Aufsicht sehen dürfen - und in der die Kinder von Gefängnispersonal großgezogen werden. Nicht unbedingt ein Film, der sich für den Hauptpreis aufdrängt, aber auch keine hanebüchene Fehlentscheidung.

Ein Ringer kämpft für seinen Sohn

"Brighton 4th" spielt in der georgischen Community in Brooklyn - zu großen Teilen in einem heruntergekommenen ehemaligen Hotel, in dem zu viele Menschen auf zu engem Raum leben. Regisseur Levan Koguashvili nähert sich dieser Welt mit einem genauen Blick für die Melancholie raubeiniger Männer, die vor langer Zeit in der Ferne gestrandet, dort aber nie richtig angekommen sind. Koguashvili versteht es, seinen Figuren nahe zu kommen, aber auch im richtigen Moment auf Distanz zu gehen.

Im Mittelpunkt steht ein ehemaliger Ringer, der aus Georgien nach Brooklyn reist, um seinen in Geldschwierigkeiten geratenen Sohn vor einem brutalen Kredithai zu retten. Levan Tediashvili, im wahren Leben tatsächlich ehemaliger Goldmedaillen-Gewinner im Ringen, spielt diesen vom Leben gezeichneten alten Mann mit einer anrührenden Mischung aus Zartheit und Raubeinigkeit. Die Jury prämierte ihn dafür durchaus nachvollziehbar mit dem Preis für die beste schauspielerische Leistung.

Ein Mann, eine Frau, ein Zugabteil

Auch "Abteil No. 6" richtet den Blick auf das Kleine: Regisseur Juho Kuosmanen lässt eine Zufallsbekanntschaft auf einer Zugfahrt durch die Weiten Russlands zur Freundschaft wachsen. Große Teile des Films spielen im titelgebenden Abteil. Dort trifft eine von ihrer russischen Lebenspartnerin sich langsam entfremdende Finnin auf einen betrunken den engen Raum vollqualmenden Russen.

Seidi Haarla und Yuriy Borisov harmonieren prächtig als dieses ungleiche Paar. Auch ihnen hätte der Schauspielpreis gut zu Gesicht gestanden. Auch bei den Cottbuser:innen kam der Film gut an: Juho Kuosmanen wurde mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

Ein formstrenger Abschied

Die größte Reduzierung aber gibt es im konzentriertesten und formal strengsten der zwölf Wettbewerbsbeiträge zu bestaunen: "Saving One Who Was Dead". In Václav Kadrnkas bei der Preisverleihung leider leer ausgegangenen Film wachen Mutter und Sohn am Bett ihres im Koma liegenden Mannes beziehungsweise Vaters. So kühl wie der Blick des Regisseurs wirken auch die Hauptfiguren, wie sie damit ringen, sich nach und nach zuzugestehen, dass das Warten nicht im erhofften Wunder münden wird, sondern im Abschied.

Die inszenatorische Strenge des Films überträgt Kadrnka auch auf die formale Ebene: Der Film ist in einem ungewöhnlichen Hochkantformat gedreht. Es zwingt Mutter und Sohn geradezu in eine aufrechte Körperhaltung. Selbst wenn sie am Bett des Vaters sitzen, seine Hände halten und auf ihn einsprechen, bleiben sie nie lange gebückt. Nahbarer werden sie für die Zuschauenden dadurch nicht. Aber die formale Reduktion unterstreicht die kühle Ernsthaftigkeit, mit der der Film sein Thema entfaltet.

Ein vertuschter Fall von Polizeigewalt

Doch nicht alle Filme im Wettbewerb leben von der Reduktion: "Leave No Traces" (Jan P. Matuszyński) macht wohl das größte Panorama der diesjährigen Auswahl auf. Der polnische Film fällt nicht nur wegen seiner Länge von 160 Minuten den Rahmen, sondern auch wegen seiner thematischen Ausgestaltung: Der Tod eines Jugendlichen, der Opfer von Polizeigewalt geworden ist, ist hier zwar auch der Ausgangspunkt für die Leidensgeschichte seiner Hinterbliebenen. Primär aber seziert der 1983 in Warschau spielende und auf Tatsachen beruhende Film die autoritären Machtverhältnisse: wie das System versucht, die Wahrheit zu vertuschen.

Matuszyński erzählt die Geschichte mit so viel Wucht, dass der Film auch seine Überlänge spielend füllt. Der Regie-Preis des Festivals für diese Leistung geht absolut in Ordnung.

Ein Streaming-Angebot

Im vergangenen Jahr fand das Filmfestival Cottbus noch komplett online statt. In diesem Jahr war es ein Hybrid: Sämtliche Filme liefen in Cottbuser Kinos und eine Auswahl auch im Stream [filmfestivalcottbus.de]. Die schlechte Nachricht: Nur ein einziger der prämierten Filme ist auch im Stream abrufbar: "Brighton 4th". Die gute Nachricht dagegen: Auch nach dem Ende des Festivals an diesem Sonntag geht das Streaming-Angebot weiter, bis zum 16. November.

Beitrag von Fabian Wallmeier

1 Kommentar

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  1. 1.

    Tolles Filmfestival, weiter so und viel Erfolg für die Zukunft

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