Interview | Soziologe über Lausitz - "Ich erwarte keinen Strukturbruch, weil die Struktur bereits gebrochen wurde"

Mo 02.01.23 | 11:53 Uhr
  5
Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Jänschwalde (Bild: dpa/ Monika Skolimowska)
Bild: dpa/ Monika Skolimowska

Inflation, Energiekrise, Ankunft vieler Flüchlinge - auch im neuen Jahr dürften diese Themen akut bleiben. Wie wirkt sich das in der Lausitz aus, wo auch noch der Kohleausstieg ansteht? Der Soziologe Raj Kollmorgen erwartet wenig Erschütterungen - im Gegenteil.

Herr Kollmorgen, auch in Cottbus gibt es regelmäßig sogenannte Montagsdemonstrationen. Die Inflation ist weiter hoch, ebenso die Energiepreise. Was muss aus Ihrer Sicht in diesem Jahr getan werden, damit der Unmut in der Bevölkerung nicht noch weiter wächst?

Raj Kollmorgen: Die Montagsdemonstrationen haben in ihrer Intensität in der letzten Zeit deutlich nachgelassen. Aber zu Ihrer Frage: Wir brauchen eine anti-inflationäre Politik, die wird von der Europäischen Zentralbank gemacht. Ich würde mir wünschen - und damit bin ich auch nicht allein -, dass die Zentralbank den Kurs, den sie jetzt sehr spät begonnen hat, konsequent weitergeht. Dann ist zu vermuten, dass sich die Inflation vielleicht noch nicht in diesem Jahr, aber dann 2024 deutlich abschwächt.

Zur Person

Raj Kollmorgen stammt aus Leipzig und ist Soziologe. Seit 2013 ist er Professor für Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz. Er beschäftigt sich mit dem sozialen Wandel, insbesondere mit postsozialistischen Transformationen in Ostdeutschland und Osteuropa. Dabei beschäftigt er sich auch mit ökologischen Umwälzungen, Regionalentwicklung und Strukturwandel.

Außerdem arbeitet er zu den Themen Eliten, Populismus und Radikalismus. Er arbeitete zudem bereits in Arbeitsgruppen der Bundesregierung.

Soziologe Raj Kollmorgen (Bild: dpa)Soziologe Raj Kollmorgen

Die Bundesregierung sollte sich dagegen jetzt genau anschauen, wo die vulnerablen Gruppen sind, also die, die durch die Inflation besonders gefährdet sind. Dort sollte eine konsequente Politik der Unterstützung betrieben werden. Das gibt es zum Teil bereits, aber wir wissen auch, dass es teils offensichtliche Probleme gibt, die durch die Politik nicht angegangen werden. Da erinnere ich an die Studierenden und an die Rentner, die man zunächst fast vergessen hatte.

Es gibt sehr viel Sachverstand im Umfeld der Bundesregierung. Wenn man das aufnimmt und umsetzt, ist mir nicht bange. Ich sehe auch nicht, dass wir in diesem Jahr weiter zehn, 15 oder gar 20 Prozent Inflation haben. Ich bin da eher optimistisch.

Die Flüchtlingszahlen steigen unterdessen immer weiter. Städte und Kreisverwaltungen heben bereits die Hände und sagen, sie können nicht weiter aufnehmen. Das könnte ebenfalls zu Demonstrationen führen. Wie schätzen Sie das ein?

Ich würde mir wünschen, dass dieses Thema von der Politik - regional, im Land und im Bund - ernst genommen wird. Das betrifft vor allem die ostdeutschen Bundesländer, die Lage in Ostsachsen ist die gleiche wie in Ostbrandenburg. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass man sich das nicht mit ausreichend Ernsthaftigkeit angeschaut hat.

Ich registriere aber jetzt, sowohl in Brandenburg, als auch in Sachsen, dass dort der Schalter umgelegt wurde. Sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen haben erkannt, dass sich die Situation nicht wie 2015 aufschaukeln darf.

Es geht jetzt auch nicht um die absoluten Zahlen, die sind gegenwärtig noch beherrschbar. Aber gerade die Landkreise und Gemeinden, in denen die Flüchtlinge zuerst landen, die geraten an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit. Man wünscht sich vom Bund jetzt eine Suche nach Immobilien, nach Gebäuden, die genutzt werden können. Ich bin nach wie vor für eine dezentrale Unterbringung. Das hat sich bewährt, auch 2015 bis 2017. Das hat in der Regel deutlich besser geklappt als bei einer konzentrierten, geballten Unterbringung.

Es ist auch völlig unklar, was in der Ukraine in diesem Jahr passiert, ob der Krieg zu einem Ende gebracht wird. Die Politik muss sich aber mit der jetzigen Situation auseinandersetzen und notfalls auch auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass die Kreise und Kommunen nicht überlastet werden.

Sie sind ein Experte im Bereich Strukturwandel. Dieser betrifft Sie in Zittau, in der Oberlausitz, aber auch uns hier in der Niederlausitz. Wie schätzen Sie den aktuellen Wandelprozess ein? Drohen ähnliche Brüche wie nach der Wende?

Wenn wir über die Braunkohle reden, hat der eigentliche Strukturbruch Anfang der 1990er Jahre stattgefunden. Von dem, was die Braunkohle einst ausgemacht hat - an Förderung und Verstromung, an Arbeitsplätzen und Wertschöpfung - ist nur noch ein kleiner Rest übrig. Wir können es gar nicht mehr mit einem ähnlichen Strukturbruch zu tun bekommen, weil die Struktur bereits gebrochen wurde.

Damals war das eingebettet in einen allgemeinen Umbruch, in eine allgemeine Transformation, von der faktisch alle Sektoren betroffen waren, alle Bevölkerungsschichten, alle Berufsgruppen. Es war schwer, einzelne Bereiche herauszunehmen und besonders zu fördern. Das ist jetzt anders.

Wenn wir uns diese Milliarden mal anschauen, die in die Region fließen, dann sollten wir in der Lausitz mal verstehen, dass es andere Regionen in der Bundesrepublik gibt, die ebenfalls mit sich ankündigenden und sich vollziehenden Strukturbrüchen zu tun haben. Die hätten möglicherweise auch eine Förderung verdient. Die Lausitz ist das, was wir strukturschwach nennen, hier gibt es noch besondere Probleme und es gibt keine anderen Industriezweige, die substitutiv wirken könnten. Aber es gibt eben auch viele andere Wertschöpfungsmöglichkeiten wie Tourismus, Pflege, Gesundheit oder auch Maschinenbau. Wir sollten die Lage also nicht überdramatisieren, sowohl hinsichtlich der Bedeutung, die der Kohlesektor heute noch hat, als auch wegen der starken Unterstützungsprogramme, die es ja gibt.

Brandenburg fährt übrigens einen anderen Kurs als Sachsen, sowohl, was die Beteiligung der Bürger angeht, als auch den konkreten Einsatz des Geldes. Man setzt hier sehr stark auf Industriepolitik. Sachsen hat sich sehr stark der Foschungspolitik verschrieben. Ich finde das gut, weil man eine Alternative erkennen kann. Wir schauen mal, wie es in zehn oder 15 Jahren aussieht, was dabei herumgekommen ist. Ich sehe beide Strategien als durchaus tragend, es gibt bereits erste Erfolge.

Wichtig ist, dass wir in Netzwerken denken. Es geht nicht um einzelne Leuchttürme, es geht nicht um einzelne Ansiedlungen, sondern es geht um Wertschöpfungsketten oder -netzwerke. Wenn uns da eine sogenannte Clusterung gelingt, dann kann es nachhaltig über die nächsten Jahrzehnte Wirkung entfalten.

Sehr lange haben wir zum Beispiel darüber diskutiert, was eigentlich mit den freigesetzten Fachkräften passieren soll. Heute freuen wir uns, dass wir sie überhaupt haben. Aktuell müssen wir uns ja um die Kräfte in allen Bereichen bemühen. Ich will sagen, gerade dann, wenn man auf innovative Wertschöpfungsketten setzt, dann bekommt man auch die Fachkräfte, die man dafür braucht. Das verbindet sich im übrigen auch mit der Migration.

Es wird ein schwieriger und konfliktreicher Prozess, aber wenn wir es in der Lausitz nicht lernen, diese Aversionen, diese ausländerängstlichen und -feindlichen Stimmungen zu drehen, werden wir uns noch wundern. Von der Pflege über die klassischen Versorgungsinstitutionen, bis hin zur Straßenreinigung werden wir diese Menschen noch brauchen. Wir täten gut daran so früh wie möglich zu fragen: Wie bekommen wir die zu uns und wie schaffen wir die Integration? Es geht nicht darum, die Scheunentore zu öffnen und zu sagen, jeder, der auf der Welt eine Bleibe sucht, kommt jetzt bitte in die Lausitz. Das wäre albern. Es geht hier um eine gesteuerte und eine begrenzte Zuwanderung, aber dass wir die brauchen, ist im Strukturwandel völlig unstrittig.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Holger Kessler für Antenne Brandenburg.

Sendung: Antenne Brandenburg, 02.01.2022, 7:30 Uhr

5 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 5.

    Soziologe und gibt der EZB finanzpolitische Tipps? Manchmal muss man echt lachen...

    Der Rest:
    Ich verstehe nicht wieso überhaupt noch rumgeheult wird wegen Arbeitsplätzen.

    Qualifizierte Fachkräfte bekommen hier in DD locker einen Job, am besten mit Techniker oder Meister. Erfahrung in Luftfahrt oder Reinraum vorteilhaft aber nicht Bedingung.

    Wenn ich jemand fähigen als Meister/Techniker "werbe", der mindestens 6 Monate bleibt, bekomme ich von HR ne fette Prämie. Kann der RBB bitte Bewerbungen an mich weiterleiten ;D?

    PS: gibt genügend hier aus Plessa, Schwarzheide, Lauchhammer und Senftenberg unter meinen Kollegen.

  2. 4.

    Ja, Deutschlandweit ist das unbestritten so. In Abwanderungsgegenden leider nicht und die Lausitz gehört leider dazu. Da ist die Pflege sicher noch eine gewisse Zeit nötig, aber da ein Altenpfleger mehrere Menschen betreut, ist die Aussicht auf dauerhafte neue Jobs überschaubar und dummerweise kommen dank Abwanderung irgendwann weniger Alte dazu. Ein echtes Zukunftsmodell sieht anders aus, oder?

  3. 3.

    "Pflege: Billiglohn und begrenzter, aussterbender Kiundenstamm"
    Die Kunden der Pflegebranche sterben aus? Haben Sie mal einen Blick in die demografischen Daten geworfen?

  4. 2.

    Ich finde die Einschätzung gut.
    Die ewig gestrigen Jammerlappen wird es aber auch geben.

  5. 1.

    Für mich alles nicht wirklich überzeugend und aus der Sicht vom hohen Ross herunter geredet. Die angesprochenen Alternativen klingen nur auf den ersten Blick verlockend.
    Tourismus: Ein begrenzter Markt, bei dem Regionen untereinander extrem konkurrieren. Man muss etwas Besonderes bieten, um die erforderlichen Massen anzulocken. Der Spreewald bietet das, die Lausitz ?... eher weniger. Zudem ist Tourismus Billiglohnbereich.
    Pflege: Billiglohn und begrenzter, aussterbender Kiundenstamm.
    Forschung (betrifft eher Sachsen): Von staatlichen Geldern abhängig und damit auch subventioniert.
    Kleinbetriebe: Brauchen zahlungskräftige Kundschaft, also Wertschöpfungsketten.
    Letztlich führt eigentlich an industriellen Leuchttürmen kein Weg vorbei, dort beginnt die Wertschöpfungskette. Die Frage ist eher, welche Industrie das sein soll und wird.

Nächster Artikel