Kommentar | Kohleausstieg schon 2030 - Die grüne Nagelprobe

Die Grünen atmen auf. Sie haben ihr zentrales Wahlversprechen - den Kohleausstieg 2030 - in den Ampel-Koalitionsvertrag gerettet. Die betroffenen Reviere wie die Lausitz sollen dabei nicht vergessen werden. Andreas Rausch warnt vor den Tücken der Umsetzung.
Des Deutschen Stromverbrauch, für Kaffeemaschine, Fernseher und Industrieanlage, findet sich für jeden zugänglich in einer Torte namens Strommix. Aus dieser ergeben sich für das Jahr 2020 diverse Informationen, z.B. dass wir alle zusammen etwa 489 Terrawattstunden verbraucht haben, und dass davon etwa die Hälfte aus erneuerbaren und die andere Hälfte aus fossilen Energien plus Kernkraft stammten. Allein 24 Prozent, also ein knappes Viertel, machten Stein- und Braunkohle aus. Nimmt man dieses dicke Stück hinaus aus der Torte, hat man ein Problem – es ist nicht genügend Strom für alle da, die Lücke muss anderweitig gestopft werden.
Um das Dilemma zu verdeutlichen, sind zwei weitere Punkte wichtig: Ein anderes Tortenstück, die Kernkraft, immerhin zwölf Prozent groß, verschwindet bis Ende 2022 auch noch - das ist mit dem Atomausstieg die geltende Gesetzeslage, an der niemand rütteln wird. Und es gehört auch zur Wahrheit: Die Torte wird jedes Jahr größer. Experten schwanken in den Prognosen zwischen 650 TWh pro Jahr bis zu einer Verdoppelung des jetzigen Standes. Die E-Mobilität, die Umstellung von Öl auf Erdwärme und die Wasserstofferzeugung als aktuell diskutierte Form der Energiespeicherung werden einen Stromhunger entwickeln, den wir so noch nicht gesehen haben. Die Strommix-Torte von heute wird dagegen schon bald wie ein Törtchen aussehen.
Applaus aus der Wissenschaft
Kann das gut gehen? Experten sagen, ja, wenn der Anteil erneuerbarer Energien massiv ausgebaut wird. Deutschland braucht einen Booster bei Windkraftanlagen und Solarparks. Die Akademie der Wissenschaften spricht von einer Verdoppelung des heutigen Bestandes an Windenergieanlagen auf mindestens 65.000. Doppelschub braucht es auch beim Ausbau der Stromnetze, weil die alten für eine solche Umstellung der Stromerzeugung im Land einfach nicht gemacht sind. Ach so, industriell nutzbare Stromspeicher wären auch schön, genauso wie in Flauten nicht zu oft auf Strom unserer Nachbarn zurückgreifen zu müssen - Kohlestrom aus Polen etwa oder Atomstrom aus Frankreich. Und die alten Reviere auch in der Lausitz sollen blühende Zukunft erfahren. Ja, ist denn heut' schon Weihnachten?
Die frisch geputzte Ampel blinkt in schillernden Farben "Fortschritt". Der Ausbau der Erneuerbaren wird forciert, parallel sollen Gaskraftwerke errichtet werden, die den steigenden Strombedarf auffangen, preiswert soll der Strom sein und von der Nachhaltigkeit der Zukunft zugewandt. Alles zum Wohle des Planeten und des vereinbarten 1,5 Grad-Klimaziels von Paris, so steht es im Vertrag.
Der Ausbau der Netze hinkt
Die Realität aber sieht (noch?) trübe aus. Zwar wird in der Industrie längst an Alternativen zu Koks und Öl geforscht, Kohlestrom wird immer unrentabler, Klimaschutz ist nichts exotisches mehr. Aber der Ausbau der Stromnetze hinkt, dabei müsste er doch vielmehr einen Dauersprint einlegen. Der hippe Wasserstoff ist noch weit entfernt von wirtschaftlich tragfähiger Nutzung, der Windradbau liegt am Boden, Hersteller wie Vestas Lauchhammer haben sich schon aus Deutschland verabschiedet.
Politische Beschränkungen verhinderten bislang die Energiewende
Ja, am miesen Zustand der Energiewende sind zahlreiche politische Beschränkungen in der Vergangenheit schuld, aber alles darauf zu schieben, wäre zu billig. Auch die Klagefreudigkeit der Deutschen bremst, zahllose langwierige Gerichtsverfahren, Regulierungswut, Ungleichbehandlungen, Schuldzuweisungen, zermürbende Debatten und, und, und. Ganz zu schweigen von den schwierigen Bemühungen, in den betroffenen Revieren so etwas wie Freude auf Strukturwandel und eine Perspektive für die Bergleute zu schaffen.
Vielerorts wirken die vielen Milliarden Unterstützer-Euros bislang eher wie Beruhigungspillen. Das wird mit dem Koalitionsbekenntnis, Projekte wie die Uni-Medizin in Cottbus nun vorzuziehen und den Betroffenen stärkere Unterstützung zu gewähren, nicht automatisch anders. Die Verunsicherung ist groß.
Damit Deutschland seine Klimaziele halten kann, muss mehr passieren als bisher vorgesehen. Ein Kohleausstieg 2030 ist definitiv ein Schritt in diese Richtung. Das steht nun im Ampel-Koalitionsvertrag - wenn die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Mit Stand heute ist für 2030 Skepsis angebracht. Es sei denn, es käme eine Revolution. Revolutionen aber wurden nie auf Papieren gemacht.
Sendung: Inforadio, 24.11.2021, 17:40 Uhr