Interview | Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan - "Auch Olaf Scholz hat gesehen, dass so eine Partei eine freiwillige Einheit darstellen muss"

Mi 08.12.21 | 17:57 Uhr
Archivbild: Olaf Scholz, Hilde Mattheis, Christina Kampmann, Michael Roth und Gesine Schwan. (Quelle: dpa/R. Weihrauch)
Audio: Antenne Brandenburg | 8.12.2021 |O-Ton: Gesine Schwan | Bild: dpa/R. Weihrauch

Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan (SPD) spricht über ihren Parteifreund und amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz, über dessen Stärken und Schwächen sowie über den Einfluss, denn sie als Vorsitzende der Grundwertekommission hat.

Olaf Scholz ist neuer Bundeskanzler. Der 63-Jährige wurden am Mittwochmorgen mit 395 Stimmen zum Nachfolger von Angela Merkel gewählt. Scholz ist nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder der vierte SPD-Kanzler. Was kann der ehemalige Finanzminster jetzt als Bundeskanzler anders machen? Wofür steht seine Politik? Was sind seine Stärken und Schwächen und was bedeutet das für die SPD?

Eine, die es wissen sollte, ist Gesine Schwan - Professorin für Politikwissenschaft und ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina. Sie ist - mit Unterbrechungen - seit über 30 Jahren Miglied der Grundwertekommission der Sozialdemokraten und seit 2014 auch Vorsitzende dieses Gremiums. Stefan Kunze hat Gesine Schwan in ihrem Haus in Zehlendorf getroffen, um mit ihr über Deutschlands neuen Bundeskanzler zu sprechen.

rbb: Frau Schwan, Olaf Scholz hat Sie in einem Spiegel-Interview einmal "meine Freundin Gesine Schwan" genannt. Ich gehe davon aus, dass er das ernst meint?

Gesine Schwan: Ja, ich glaube, er hat das in dieser Hinsicht nicht distanzierend gemeint oder ironisch, wobei wir aber nicht enge persönliche Freunde sind. Aber der Kontext war ja, und das war für mich ganz interessant, dass die Frage ist, ob man eine Partei sozusagen autoritär führen und die Einheit autoritär herbeiführen kann. Davor habe ich ihn immer wieder, auch in persönlichen Gesprächen, gewarnt. Ich habe gesagt, mit einer Partei, die von oben befohlen wird, kann man nicht viel anfangen. Das muss schon von innen kommen, das muss auch mit strittigen Diskussionen einhergehen. Sonst ist eine Partei nicht lebendig und auch nicht dynamisch, nicht kraftvoll. Das hat er sich gemerkt und hat das positiv gewendet und gesagt, meine Freundin Gesine Schwan hat gesagt, eine Einheit kann man nicht befehlen, sondern die muss von Herzen kommen. Das ist sinngemäß durchaus das, was ich gesagt hatte. Insofern habe ich das positiv gedeutet, dass er eine potentielle Kritik an einer Politik, die er vielleicht betreiben würde, nämlich per ordre de mufti, die Einheit herzustellen, umwendet in eine positive Handlungsweise, mit der ich durchaus einverstanden bin.

Die positiven Handlungsanweisungen kommen dann von der lieben Freundin Gesine, aber Sie würden nicht sagen "mein lieber Freund Olaf"?

Also ich habe auch nichts dagegen. Aber gerade wenn jemand sich aufmacht, Bundeskanzler zu werden, dann kommt man sich ein bisschen komisch vor. Ich bin ja nicht Papst, dass ich sage, "mein lieber Freund Olaf". Aber ich habe immer auch wieder Wertschätzendes - überall dort, wo ich das so finde - ausdrücklich gesagt, dass er zum Beispiel durchaus lernfähig ist. Ich glaube und meine auch, dass man ihn immer noch überzeugen kann. Wir müssen jetzt mal gucken, was dabei herauskommt. Aber ich weiß ganz genau, wie sein Umfeld tickt und dass das Umfeld wie eine Mauer ihn bewahren will, vor allem, was in irgendeiner Weise Wahlerfolge beeinträchtigen könnte.

Das ist ganz offenkundig, aber vielleicht gelingt es doch, irgendwann zu sagen, es ist längerfristig viel besser, gerade jetzt am Anfang einer Legislaturperiode, wo nicht sofort Nationalwahlen anstehen, die schwierigen Sachen abzuräumen.

Hört Olaf Scholz auf Sie?

Ich hoffe, er hört auf niemanden, außer auf sein Gewissen. Er hört schon auf Ratschläge von Personen, von denen er annimmt, dass sie das ernst meinen. Dieser Fall mit der Einheit, die nicht von oben angeordnet werden kann, ist ja ein Anhören, aber nicht gehorchen. Das würde mir auch sehr peinlich sein. Aber ein Anhören dessen, was ich sage, ich glaube, das geschieht schon.

Also holt er Ihren Rat ein und sucht den auch als Vorsitzende der Grundwertekommission?

Das ist schon richtig und die Grundwertekommission (GWK) hat ja auch in den letzten Jahren an Gewicht gewonnen, weil auch Olaf Scholz gesehen hat, dass so eine Partei eben eine freiwillige Einheit darstellen muss. Und dazu gehört, dass Konflikthemen behandelt und ausgesprochen werden, sonst versteift sich das in Flügelkämpfe und reine Machtkämpfe.

Das ist eine Aufgabe der GWK - nicht nur vorherzusehen, was für Herausforderungen werden auf uns zukommen, so hat Willy Brandt es gewollt, und wie kann man sie im Lichte unserer Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität angehen - sondern auch, was sind die innerparteilichen Konflikte. Das betraf sehr stark die Wirtschaftspolitik. Da gibt es jetzt eigentlich nicht mehr wirklich neoliberale Opinionleader in der SPD. Die gab es aber sehr stark. Auch Olaf Scholz war nicht abgeneigt gegenüber dieser neoliberalen Tendenz.

Aber ich glaube, gerade zum Beispiel dieser Ausgleich in der Europäischen Union, den er gemacht hat, hat dazu geführt, dass er selbst auch weggegangen ist von der reinen haushalterischen, Kasse-muss-stimmen-Politik, hin zu einer, die auch mit gemeinsamer Kreditaufnahme und gemeinsamen Tragen von Problemen und Zuwendungen - statt nur Kredite - die gesamte Europäische Union solidarisch zusammenhalten will. Das ist ihm glaube ich ernst. Da ist er auch viel zu intelligent, um das nicht ökonomisch zu verstehen. Ich glaube der Zugang ist am besten, wenn A seine Wahlchancen nicht beeinträchtigt sind und B das Ganze gut und plausibel argumentiert ist.

Sie sind Vorsitzende der Grundwertekommission. Wird das noch einmal abgeglichen, was in den Koalitionsvertrag kommt?

Nein, viele wissen, wo meine Punkte sind, auf die ich großen Wert lege und ich speise auch ein, bis hin zu Formulierungen für den Koalitionsvertrag. Aber da habe ich genauso die Freiheit zu sagen, also hier ist es viel zu kurz geworden und hier muss noch erheblich nachgebessert werden, selbst wenn auf dieser Basis jetzt die Koalition beschlossen wird. Das heißt ja nicht, dass die nur noch diesen Fahrplan abarbeitet, so läuft das ja nie mit Koalitionsverträgen.

Sie sagten, Sie speisen dann schon ein, was genau an Sätzen in den Koalitionsvertrag…

Natürlich, das ist doch ganz legitim. Das machen doch andere auch. Also man kann doch informieren und sagen, Lobbies jeder Art sind doch da zugange. Das ist auch eine Lobby, die ich für die Flüchtlingsfrage mache. Man muss doch sehen, das sind doch keine Seminare, solche Koalitionsverhandlungen, sondern die müssen gezielt und unter Zeitdruck vorangehen. Wenn da wer etwas in der Hand hat, ist es doch besser als wenn man nichts in der Hand hat. Ist doch klar.

Analytische Kompetenz, Projektmanagement, Mediation und Verhandlungsführung: Hat das alles Olaf Scholz?

Vieles von dem hat er natürlich unter Beweis gestellt. Ganz klar, er kann gut denken, er kann handeln, er kann wirken, er kann Projekte zusammenbauen, er kann führen – das alles hat er ganz klar gezeigt. Seine Schwächen waren eher dort, dass man den Eindruck hat, er kann führen durch Ansage. Da glaube ich hat er dazugelernt, dass das nicht gut ist, dass man damit nicht zusammenkommen kann. Er sagt das auch immer wieder. Ich habe keinen Anlass anzunehmen, dass er das nur vorwendet und in Wirklichkeit nicht meint.

Er ist auch kein Opportunist. Er ist auch nicht einfach, wie es Frau Merkel aus meiner Sicht war, ein Aussitzer von Problemen. Wenn er eine Lösung sieht, geht er das auch an. Die Grenze ist wirklich da, wo er meint oder wo ihm die Umgebung suggeriert, das darfst Du nicht tun, weil das deine Wahlchancen beeinträchtigt. Das ist die entscheidende Grenze, nicht dass er es nicht denken kann oder dass er borniert wäre. Davon ist keine Rede. Also er ist sicher weniger projektorientiert und teamorientiert und kollegial orientiert. Er hat natürlich sein enges Vertrauensteam. Das ist wichtig, das hat er seit Jahrzehnten, mindestens seit 15 Jahren. Ich kenne auch einige von denen gut. Problem ist, selbst wenn die jünger und aufgeschlossener und auch nicht autoritär und liebedienerisch sind - das sind sie nicht, nach meiner Einschätzung - ist es aber dann doch eine verschworene Gemeinschaft. Das ist immer eine Gefahr für einen, der Gesamtverantwortung trägt, weil dann alle Wahrnehmungen auch gefiltert werden.

Ein Satiriker hatte gesagt, ich "scholze" jetzt. Das heißt ich ecke nicht an, die anderen stehen nicht neben mir, ich bin die Ein-Mann-Partei. So hat die SPD ihn im Grunde genommen auch plakatiert. So gesehen, hat er alles richtig gemacht, die SPD hat gewonnen. Aber als SPD oder als Olaf Scholz?

Ganz sicher auch als Olaf Scholz. Gar keine Frage. Seine Art, auch das Nichtauftrumpfen – ich weiß auch nicht, er hat ja vielleicht ein paar Hungerkuren gemacht, er ist ja allmählich kaum noch zu sehen, so schlank ist er – und sich nicht in den Vordergrund drängen, das kann natürlich eine Form von geschicktem in dem Vordergrund stellen sein. Aber diese Art hat auf die meisten sympathisch gewirkt. Das ist der Punkt, dass man auf die Wähler sympathisch wirkt. Das hat er mit der Scholzomat-Phase nicht getan, da war er nicht sympathisch. Der Scholzomat war, als er Generalsekretär war und sehr schematisch reagiert hat auf alles.

Zurück zur Frage: Olaf Scholz ohne Zweifel auch - aber auch SPD. Vor allem weil die Partei in den vergangenen zwei Jahren, unter anderem bei der Diskussion zum Wahlprogramm von GWK in verschiedenen Bereichen viele offene, sehr intensive, argumentative Gespräche stattgefunden haben. Außerdem hat Gustav Horn, der im Vorstand der Partei ist, einen wirtschaftspolitischen Beraterkreis organisiert, der mit angesehenen Volkswirten meistens bestückt ist und der auch viel mit Olaf diskutiert hat. Da geht er hin, das hört er sich alles sehr genau an. Es wissen auch alle, dass er versteht, worum es geht. Also er ist da kein Dumpfi, und er überlegt sich dann, was ziehe ich für Schlüsse daraus. Aber das ist legitim. Er kann ja jetzt nicht einfach irgendeine Mehrheitsmeinung von einem Beraterkreis übernehmen. Da ist auch viel Vertrauenswürdiges. Das Problem sehe ich wirklich darin, dass ich mir wünschen würde, auch einige der ganz heiklen Fragen anzugehen, weil sie sich sonst fortsetzen. Sozusagen wie Ölflecken, die hören ja nicht auf. Ein Beispiel ist das Thema Migration und da werde ich auch weiter Lobby betreiben, das gebe ich nicht auf.

Dass er sich so ein wenig als der wahre Erbe von Angela Merkel inszeniert hat, ist in Ordnung?

Dass er diese Art von Erwartung, die auf Frau Merkel gerichtet ist, auch bedient hat – das nehme ich ihm nicht übel. Er wäre ja töricht gewesen, es nicht zu machen. Aber ich sehe doch einen deutlichen Unterschied zwischen Frau Merkel und ihm. Bei Frau Merkel weiß ich überhaupt keinen inhaltlichen Punkt, den sie wirklich politisch will. Das sehe ich bei ihm nicht. Er hat solche Punkte. Er hat sie vor allem in der Sozialpolitik und auch in der Europapolitik. Bei Frau Merkel sehe ich nicht einen einzigen Punkt. Auch nicht beim Offenhalten der Grenze 2015. Das ist kein Überzeugungsakt von ihr gewesen. Das war eine Einschätzung der Situation. Und von da an hat sie alles gemacht, um die Grenzen wieder zu schließen. Da ist ein ganz großer Unterscheid. Die berühmte Führung von hinten, die man Frau Merkel zugesprochen hat, die aber auch nur bedeutet, zu beobachten wie entwickeln sich die Mehrheiten und dann mache ich das, das ist nicht seine Methode von Politik.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Interview mit Gesine Schwan führte Stefan Kunze für Antenne Brandenburg.

Sendung: Antenne Brandenburg, 8.12.2021, 14:40 Uhr

 

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