Interview | Osteuropa-Experte der Viadrina zum Russland-Ukraine-Konflikt - "Da steht eine harte und lange Konfrontation bevor"

Di 22.02.22 | 18:27 Uhr
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Ein ukrainischer Soldat ist an der Front im Dorf Verkhnotoretske zu sehen, das direkt an der Front in der Ostukraine liegt. (Foto: Andriy Andriyenko/picture allicance)
Audio: Antenne Brandenburg | 22.02.2022 | Timm Beichelt | Bild: Andriy Andriyenko/picture allicance/SOPA via ZUMA Press Wire

Mit der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken auf dem Gebiet der Ukraine und der Entsendung von Truppen habe Russlands Präsident Putin eine Grenze überschritten und Fakten geschaffen, sagt Viadrina-Professor Timm Beichelt. Er glaubt, dass Russland sich weitere Gebiete einverleiben wird.

Seit Tagen spitzt sich die Situation an der russisch-urkainischen Grenze zu. Nun hat die Kreml-Führung um Präsident Wladimir Putin die sogenannten Volksrepubliken auf dem Territorium der Ukraine offiziell als eigenständig anerkannt. Deutschland und seine Verbündeten sprechen von einem offenen Völkerrechts-Bruch und planen Sanktionen gegen den russischen Staat.

Im Interview mit rbb|24 spricht Timm Beichelt, Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), über die Situation, was er für Entwicklungen erwartet und ob es bereits Spannungen zwischen seinen russischen und ukrainischen Studierenden gibt.

rbb|24: Herr Beichelt, befinden wir uns bereits in einem Krieg?

Timm Beichelt: Das ist Definitionssache. Es kann sicherlich völkerrechtlich argumentiert werden, dass die Souveränität eines europäischen Staates mit militärischen Mitteln verletzt wurde, da jetzt Panzer in das Donezker Gebiet, in den Donbass eingefahren sind. Deswegen kann man von Krieg sprechen. Andererseits ist es so, dass sich vor Ort gar nicht so viel verändert hat, da es faktisch sowieso kein Gebiet mehr war, in dem die Ukraine Hoheitsgewalt hatte. Dadurch ist es eine hybride Situation zwischen Krieg und Nicht-Krieg.

Zur Person

Prof. Dr. Timm Beichelt von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) spricht bei einer Podiumsdiskussion (Heide Fest)
Heide Fest

Prof. Dr. Timm Beichelt ist Inhaber der Professur für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und leitet den Studiengang "European Studies".

Was glauben Sie ist in den vergangenen Wochen und Monaten passiert, dass sich die Situation so zugespitzt hat? Hat die Diplomatie versagt?

Das glaube ich nicht. Diplomatie kann auch nur ausloten, was es an gemeinsamen Argumenten oder Positionen gibt.

Ich habe mir die Rede, die Präsident Wladimir Putin gestern im russischen Fernsehen gehalten hat, noch einmal angeschaut. Darin wurde jetzt für mich klarer als vorher dargelegt, dass der Kreml eigentlich der Ukraine kein eigenes Existenzrecht zugesteht. Zumindest nicht in einem staatlichen Sinne, das mit Souveränität verknüpft ist. Also eine Nationalität ja, aber eben eine Nationalität innerhalb der russischen, der orthodoxen Welt, wie Putin gesagt hat. Und das kann auch kein Diplomat ändern.

Damit hat Putin jetzt angekündigt, dass im Laufe der kommenden Jahre die Kreml-Agenda darin bestehen wird, sich die gesamte Ukraine einzuverleiben. Insofern steht da eine harte und lange Konfrontation bevor.

Putin führte in seiner Rede zur Begründung seiner Handlungen die Nato-Osterweiterung an, die er mit der Wiedervereinigung Deutschlands in einem Zusammenhang setzt. Hat die Nato-Osterweiterung bei dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR einerseits und Großbritannien, Frankreich, den USA und der Sowjetunion andererseits eine Rolle gespielt?

Das spielt sicherlich eine große Rolle. Es handelt sich da aber auch um ein Argument unter mehreren. Putin hat sowohl über die Gründungsphase als auch über die Endphase der Sowjetunion gesprochen und gesagt, dass die ökonomischen und politischen Eliten 1989 durch eine unverantwortliche Politik dazu beitrugen, dass Nationalitäten zu einem Souveränitätsrecht kamen. Demnach geht es nicht nur um die Nato, sondern da scheint auch eine Verletztheit eines russischen Imperialisten daraus zu sprechen. Nämlich dass sich die Teilgebiete, die sich innerhalb des russischen Imperiums vermeintlich seit Jahrhunderten befunden haben, auf einmal gegen die Kernmacht, gegen Russland wenden. Aus seiner Sicht ist es dann eben ein zweites Problem, dass die Nato sich dann dieser neuentstandenen Staaten auch noch angenähert hat.

Unter Ihren Studenten sind auch gebürtige Ukrainer und auch Russen. Wie gehen diese mit dem Thema um?

Das ist jetzt in der Corona-Situation ein bisschen schwer zu sagen, denn man sieht ja nur wenige Studierende auf dem Campus. Bislang habe ich von keinen Konflikten zwischen russischen und ukrainischen Studierenden auf dem Campus gehört. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass insgesamt die Studierende, die aus Russland stammen und sich für ein Studium im Westen entschieden haben, nicht gerade Putin-Freunde sind.

Ich mag Russland. Ich habe dort gelebt und habe auch russisch studiert. Mir tut das sehr weh, dass es möglicherweise in den nächsten Monaten und Jahren eine antirussische Bewegung geben kann, die auch immens sein könnte. Deswegen kann man auch nicht ausschließen, dass das dann auch auf die Studierenden übergreift, dass sich dann auch die vielen Russen, die in Westeuropa leben, sich einem ziemlich starken Druck ausgesetzt sehen werden. Denn mit dem gestrigen Tag ist eine Grenze überschritten worden. Das ist eine Zäsur. Das ist jetzt einfach eine neue geopolitische Realität.

Wie sollte die Nato auf die gestrigen Ereignisse reagieren?

Auf mich muss man da sicherlich nicht hören. Aber ich denke nicht, dass es jetzt unbedingt darauf ankommt – ob es nun heute oder nächsten Montag ist – wie der Westen reagiert. Russland hat sich entschieden einzumarschieren und ich glaube kaum, dass die Truppen bis nächsten Montag wieder weg sein werden. Deswegen kann man jetzt auch in Ruhe schauen, wie man darauf reagiert. Es sollte aber eine geschlossene Reaktion sein und eigentlich auch eine, die Härte zeigt. Man wird Russland nicht daran hindern können, sich weitere Gebiete der Ukraine einzuverleiben. Das ist nun mal das Wesen von imperialen Mächten, die haben nicht natürlicherweise genug.

Meine Vermutung ist, dass jetzt die offiziellen Dokumente, die die Gebiete als unabhängig anerkennen, benennen, um welche Gebiete es genau geht. Die Volksrepubliken haben sich ja nur auf Teilen der administrativen Einheiten Luhansk und Donezk gebildet. Da wird man jetzt mit Interesse lesen, was eigentlich genau diese anerkannten Gebiete sind. Meine Vermutung ist, dass das bewusst offengehalten wurde.

Russland hat angekündigt Truppen entsenden zu wollen. Was hat der Kreml Ihrer Meinung nach vor?

Ich glaube, es ist falsch zu denken, dass es der russischen Regierung jetzt darum geht, dass es den Menschen in diesen beiden Regionen besser geht. Wer einmal in Transnistrien war, weiß, wie schlecht sich Regionen entwickeln, die von Russland sozusagen besetzt, halbwegs anerkannt, aber nicht unterstützt werden. Russland hat kein Interesse dort einen Sozialstaat zu schaffen oder diese Regionen ökonomisch zu entwickeln. Das sind Pufferzonen, die Unsicherheit in Nachbarstaaten schaffen sollen. Das ist die Funktion davon. Insofern glaube ich eben auch, dass es vage gehalten wurde, was nun genau anerkannt wird. Alleine um diese Unsicherheit sowohl westlich wie östlich dieser Kontaktlinie aufrecht zu erhalten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Sendung: Antenne Brandenburg, Antenne am Nachmittag, 22.02.2022, 14:10 Uhr

Die Fragen stellte Sabine Tzitschke

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8 Kommentare

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  1. 8.

    wäre das nicht wahre Demokratie ? wenn das die Bevölkerung mehrheitlich möchte ?

  2. 7.

    " Dafür dürfen wir Bürger die Folgen durch immer weiter steigender Preise tragen, "

    natürlich, wer denn sonst ? die Gas-& Strompreise sind schon explodiert und werden weiter steigen, aber Deutschland leistet sich den Luxus NS 2 " auf Eis" zu legen obwohl wir 50% Erdgas aus Rußland beziehen und unsere Gasspeicher nur zu 30 % gefüllt sind... noch . Aber Habeck fabuliert von " vorübergehenden Preissteigerungen " die ihn selbst wohl kaum betreffen werden, er muß ja nicht zahlen

  3. 6.

    zutreffender Kommentar, die Blockade des Minskabkommens liegt bei der Ukraine , und mit der Doppelzüngigkeit der "Westen" haben Sie recht . Insgesamt lässt sich auch hier wieder feststellen: bei Kriegen wird von allen Seiten gelogen.

    die Interessen der USA in diesem Konflikt sind nicht altruistisch , sondern die Möglichkeit US Militärbasen zu installieren,außerdem nebenbei die ungeliebte NS 2 Pipeline zu torpedieren, was sie ja mehrfach unverblümt gesagt haben ,aus lauter " Sorge." vor der russischen Abhängigkeit. Selber beziehen sie aber weiter Öl aus Rußland.
    Wer weiß von den US Bürgern schon wo die Ukraine überhaupt liegt

  4. 5.

    In eigener Sache.
    Diese Antwort zum Völkerrecht ist den Beitrag vom "Frank" zuzuordnen.
    Sorry.

  5. 4.

    Man stelle sich vor, ein Prässident eines anderen Landes erklärt die Unabhängigkeit seiner Landsläute in Deutschland, weil sie es wünschen.
    Das soll Ihr Verständnis vom Völkerecht sein?

  6. 3.

    Vielleicht stammen Sie ja aus Russland und agieren hier im Sinne Putins, der seine Propaganda fast wortwörtlich so betreibt. Putins Rede war die eines nicht an Wahrheiten interessierten Mannes, der Geschichte neu erfindet und sich das nimmt, was ihm nicht gehört. Wahrscheinlich blenden Sie völlig aus, dass die Ukraine existiert und anerkannt ist. Der Aggressor ist Putin und er ist tatsächlich unberechenbar. Im letzten Satz geht es um Ihre privaten Unannehmlichkeiten, die auf Sie persönlich zukommen. Danken Sie Putin dafür.

  7. 2.

    Genau so ist es! Ich stimme in allen Punkten zu. Trotzdem bin ich nicht glücklich mit Putins Einmarsch.

  8. 1.

    Es ist doch bezeichnend, mit welcher Doppelzüngigkeit der "Westen" vorgeht.

    1998 konnte man nicht schnell genug den Kosovo, ein Teil Serbiens, als selbstständigen Staat anerkennen. Und als sich das ungeliebte Serbien nicht begeistert zeigten, legten Bomber des Verteidigungsbündnisses NATO Teile Serbiens in Schutt und Asche.

    Nun entscheidet sich Russland, die Unabhängigkeit seiner Landsleute in Donezk und Luhansk auf deren Wunsch anzuerkennen, da die Ukraine der Verpflichtung aus dem Minker Vertrag zur weitreichenden Autonomie dieser Gebiete nicht nachkommt, schon ist das Geschrei genau dieses "Westens" groß.

    Und Niemand hinterfragt die Interessen der USA in diesem Konflikt. Dafür dürfen wir Bürger die Folgen ion Form immer weiter steigender Preise tragen, die die Sabnktionen mit sich bringen..

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