Interview | Charité-Rechtsmedizinerin - "Kindesmisshandlung zieht sich durch alle sozialen Schichten"

Mi 03.08.22 | 18:25 Uhr
Symbolbild: Ein Junge kauert sich auf seinem Bett zusammen. (Quelle: dpa/N. Amer)
Audio: Antenne Brandenburg | 03.08.2022 | Dorett Kirmse | Bild: dpa/N. Armer

Bundesweit 152 Kinder sind 2020 gewaltsam zu Tode gekommen. Das sind 40 Fälle mehr als im Vorjahr. Die Dunkelziffer liege deutlich höher, sagt die Leiterin der Gewaltschutzambulanz an der Charité Berlin, Saskia Etzold. Und: Hilfe komme oft zu spät.

rbb: Frau Etzold, in der Gewaltschutzambulanz der Charité werden Kinder nicht behandelt, sondern begutachtet, was heißt das konkret?

Saskia Etzold: Uns werden Kinder vorgestellt mit dem Verdacht einer Misshandlung und/oder Vernachlässigung. Wir untersuchen dann rechtmedizinisch und schreiben ein Gutachten, ob sich der Verdacht auf eine Misshandlung bestätigt hat oder nicht. In knapp 20 Prozent der Fälle stellen wir in der Untersuchung fest, dass es sich entweder um eine unfallbedingte Verletzung oder noch viel häufiger, dass es sich gar nicht um eine Verletzung handelt, sondern zum Beispiel um eine Hyperpigmentierung der Haut oder eine Infektionserkrankung.

Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Wir können immer schlecht über Fälle sprechen, deswegen kann ich mich da nicht zu einzelnen Fällen äußern. Aber letztendlich muss man ja sagen, ist jeder Fall, wo ein Kind infolge von Misshandlung zu Tode kommt, einer zu viel. Man geht davon aus, dass auf jeden bekannten Fall, es mindestens einen weiteren gibt, der im Dunkelfeld liegt. Wir müssen davon ausgehen, dass die Zahl mindestens doppelt so hoch ist.

Archivbild: Dr. Saskia Etzold von der Gewaltschutzambulanz. (Quelle: dpa/J. Carstensen)
Dr. Saskia Etzold ist Rechtsmedizinerin und Leiterin der Gewaltschutzambulanz an der Berliner Charité | Bild: dpa/J. Carstensen

2019 kamen bundesweit 112 Kinder gewaltsam zu Tode, 2020 waren es schon 152 Fälle. Hat die Corona-Pandemie die Lage verschärft?

Wir haben bei uns im Alltag sehr wohl gesehen, dass die Zahlen deutlich hochgegangen sind. Wir haben das meistens dann gesehen, wenn der Lockdown gelöst wurde und die Kinder dann zum Beispiel wieder in die Kita oder in die Schule zurückgekommen sind. Was innerhalb des Lockdowns passiert ist, können wir natürlich nicht wirklich sagen, weil Verletzungen bei Kindern sehr schnell heilen. Da sieht man innerhalb weniger Tage keine Verletzung mehr. Aber insgesamt sind die Zahlen bei uns deutlich gestiegen. Man weiß ja auch aus anderen Bereichen, zum Beispiel aus den Frauenberatungsstellen, die ja telefonisch auch beraten haben, das insgesamt die interfamiliäre Gewalt innerhalb dieser Zeiten deutlich angestiegen ist.

Kommt Kindesmisshandlung nur in einem speziellen sozialen Umfeld vor?

Kindesmisshandlung zieht sich durch alle sozialen Schichten, durch alle kulturellen Hintergründe und durch alle Bildungshintergründe. Was sich teilweise ändert, genauso wie bei der häuslichen Gewalt, ist die Art der Verletzung, die wir sehen. Bei gut gebildeten Eltern haben wir es häufiger, dass die Misshandlung nicht im sichtbaren Bereich, nicht im Gesicht selber zu erkennen ist, sondern, dass die Kinder angeben, sie werden gezielt auf den behaarten Kopf, auf den Rücken oder das Gesäß geschlagen, damit man – wenn die Kinder bekleidet sind – nicht sieht, dass sie Verletzungen erlitten hätten. Das ist etwas, was uns auch immer wieder im Rahmen der Partnerschaftsgewalt berichtet wird.

Gibt es aus Ihrer Sicht trotzdem Familien, die gefährdeter sind als andere?

Insgesamt muss man sagen, gibt es Risikofaktoren für Misshandlungen, sowohl, was das Schütteltrauma (Hirnverletzung, die durch gewaltsames Schütteln von Babys und Kleinkindern verursacht wird, Anm. der Red.) angeht als auch für allgemeine anderen Misshandlungen. Man weiß aus Studien, dass zum Beispiel das Risiko steigt, wenn wir psychische Erkrankungen in der Familie haben, wenn wir einen Substanzmissbrauch – also Drogen- oder Alkoholabhängigkeit – in der Familie haben, wenn große finanzielle Probleme in der Familie vorliegen oder wenn sie einen sehr beengten Wohnraum haben. Das sind alles Risikofaktoren, die das Ganze erhöhen. Die Wahrscheinlichkeit, misshandelt zu werden, ist bei alleinerziehenden Eltern höher, die vielleicht nicht die Eltern in der Umgebung haben, die sagen, ok, ich nehm dir auch mal das Kind für ein paar Stunden ab.

Letztendlich kann man aber nicht sagen, dass bestimmte Schichten besonders gefährdet sind, was Misshandlung angeht, was es auch so schwierig macht, die Misshandlung zu identifizieren, aber es gibt Risikofaktoren, auf die genau geguckt wird. Inzwischen gibt es ja auch sehr viele Projekte, die schon sehr frühzeitig darauf gucken. Zum Beispiel die Babylotsen, die bereits in der Geburtsklinik Gespräche mit Eltern suchen und wenn sie Risikofaktoren identifizieren, versuchen, den Eltern Hilfestellung über das Jugendamt zu organisieren.

Sind es vor allem Männer oder Frauen, die Kinder schlagen?

Es gibt Studien die zeigen, dass es sowohl Männer als auch Frauen gibt, die diese Gewalt ausüben. Es gibt bestimmte Konstellationen, die uns im Alltag häufiger begegnen. Das ist zum Beispiel häufig der neue Partner einer Mutter, der das Kind misshandelt. Aber Konstellationen gibt es eigentlich in jeder Variante.

2014 haben Sie gemeinsam mit dem Rechtsmediziner Michael Toskos das Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder" veröffentlicht, indem sie auf strukturelle Fehler beim Kinder- und Jugendschutz hinweisen. Wo genau klemmt es im System?

Das Problem, was wir im System haben, ist, dass bestimmte Bereiche, die zum Beispiel wichtig miteinander zusammenarbeiten müssen, getrennt sind. Ein einfaches Beispiel: Wenn dem Jugendamt bekannt wird, dass eine Familie Unterstützung braucht, kann das Jugendamt nicht selbst die Hilfe geben. Das heißt, das Jugendamt, was ja entscheiden muss, wie das Ganze weitergeht, hat keine Möglichkeit, selber mit dieser Familie zu arbeiten, um dadurch festzustellen, wann wird es brenzlig, sondern sie müssen es auslagern an einen freien Träger.

Der freie Träger ist davon abhängig, diese Aufträge zu bekommen und verdient sein Geld damit, die Familienhilfe in den Familien zu machen. Sie haben hier eine gewisse finanzielle Abhängigkeit davon, dass das Kind in der Familie bleibt. Das Jugendamt, was über die Fälle entscheidet, hat keinen direkten Kontakt zu der Familie, sondern kriegt Berichte vorgelegt. Jetzt wissen wir alle, Papier ist geduldig. Berichte können einem nie so eindrücklich eine Situation darstellen, wie wenn wir selber in Kontakt mit den betroffenen Personen sind.

Wir haben hier das Problem, dass die Institution, die etwas entscheiden soll, keine Möglichkeit hat, dort selber etwas zu überprüfen. Gleichzeitig gehört das Jugendamt dem öffentlichen Dienst an, da sind die Kassen immer sehr knapp. Das heißt, die Bezahlung ist nicht sonderlich gut, was dazu führt, dass viele erfahrene Leute diesen Bereich verlassen und woanders hingehen, wo sie mehr Geld verdienen. Das heißt, sie haben hier sehr viele junge Leute. Es ist allgemein bekannt, dass sehr viele Stellen unbesetzt sind und die Stellen, die besetzt sind, haben häufig einen sehr hohen Krankenstand. Sie haben dann so eine Ballung von Fällen, das die Betroffenen kaum noch in der Lage sind, solche Fälle zu bearbeiten.

In Ihrem Buch haben Sie damals auch gefordert, dass bestimmte Bereiche besser geschult werden müssen. Was hat sich diesbezüglich in den vergangenen acht Jahren getan?

Seit der Veröffentlichung des Buches hat sich ganz ganz viel getan. Wir bieten als Gewalschutzambulanz Schulungen für Menschen, die mit Gewaltopfern arbeiten an und diese werden auch regelmäßig angenommen. Inzwischen sind so gut wie alle Jugendämter der Stadt geschult, frei Träger wenden sich an uns. Es haben sich inzwischen auch schon ganz viele Schulen und Kitas von uns schulen lassen. Es ist natürlich immer noch so, dass sich in bestimmten Ausbildungen, zum Beispiel beim Studium der Sozialen Arbeit, Kindesmisshandlung entweder gar nicht Pflichtteil ist oder marginal Pflichtteil ist. Das ist etwas, woran gearbeitet wird, dass in all diesen Curricula der verschiedenen Berufsgruppen dieses Thema stärker und tiefgreifender implementiert wird.

Frau Etzold, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview mit Saskika Etzold führte Dorett Kirmse. Dies ist eine redigierte und gekürzte Fassung des Gesprächs.

Sendung: Antenne Brandenburg, 03.08.2022, 15:10 Uhr

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