Interview | 60 Jahre "Die Kinder von Golzow" - "Da ist ein Zeitdokument entstanden"

Mit "Die Kinder von Golzow" begann 1961 kurz nach dem Bau der Mauer eine der längsten Dokumentation der Filmgeschichte. Knapp 45 Jahre begleitete Regisseur Winfried Junge Kinder im Oderbruch auf dem Lebensweg. Nun jährt sich der Drehstart zum 60. Mal.
Zum Schulststart im September 1961 begleitete ein Kamera-Team erstmals die Kinder der Klasse 1A an ihrem ersten Tag. Was mit einer kleinen Studie begann, wurde mit "Die Kinder von Golzow" zu einer der bekanntesten Langzeit-Dokumentation der Welt. Herausgekommen sind bis zum Ende 2005 insgesamt 20 Filme und 200 Stunden Filmmaterial. Regisseur Winfried Junge blickt zurück.
rbb|24: Herr Junge, warum ist die Dokumentation ausgerechnet in Golzow entstanden?
Winfried Junge: Das war nicht meine Idee, sondern die von meinem Lehrer, dem Regisseur Carl Gass. Er schlug vor, mit einer Einschulung anzufangen und dann die Kinder dieser Klasse durchs Leben zu begleiten. Am besten so lange, bis sie selbst Kinder haben und diese einschulen.
Wo, war die nächste Frage. In Eisenhüttenstadt wollte ich nicht drehen: Die hatten nur für die Einschulung 20 Klassen - wie soll man da die richtige finden? Dann habe ich mich beim Bezirksschulrat informiert. Die Empfehlung war eine neugebaute Schule zu nehmen - und das war Golzow. Die Schule gehörte zu den ersten Neubauten nach dem Krieg, wo kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist. Außerdem lag der Kindergarten neben der Schule, so dass man zeigen konnte: Das wird der Weg vom Buddelkasten.
Wie war der erste Schultag?
Durch die drei Tage im Buddelkasten kannten die Kinder und wir uns schon. Das war gut für uns zu wissen, wen wir vor uns haben. Am Tag der Einschulung kamen die Eltern mit den Zuckertüten dazu. Die haben sie in einen Baum gehängt und jedes Kind musste sich seine suchen. Dann haben wir das ganze Gewühl und das Festliche auf dem Hof vor der Schule gezeigt - bis zu dem Lied "Wenn ich jetzt zur Schule gehe", das die Kinder noch im Kindergarten gelernt hatten.
So fing es an - und der erste Tag war auch der schönste. Aber ab da musste aus dem Spielen Lernen werden. dann fing das Disziplinieren an. Aber statt ihre Buchstaben zu schreiben, haben manche lieber draußen eine Katze beobachtet.
Die Volksbildung hätte lieber einen Lehrfilm gehabt und wir haben genau das Gegenteil gesucht. Wir wollten zeigen, wie das Leben geht.

Wie haben Sie die Anfänge erlebt?
Durch Technik wird alles anders. Wir hatten einen Klassenraum im Erdgeschoss und haben von draußen hereingedreht. Die Kinder sahen uns natürlich doch und dann wurde ein Versteckspiel daraus. Das hatte natürlich starken Einfluss auf den Unterricht. Wir haben die junge Lehrerin, die zum ersten Mal eine Klasse hatte, schon bewundert, wie sie versucht hat, da durchzukommen. Aber aus ihr ist ja auch was geworden.
Wie blicken Sie 60 Jahre später auf das ganze Projekt zurück?
Es ist schon etwas Besonderes gewesen und geblieben. Es tut mir nicht leid und hätte ja auch verunglücken können. Vielleicht auch weil die DDR der Hintergrund war und das heute vielleicht keiner mehr sehen will. Aber es ist heute doch interessant zu erleben, wie Schule damals war. Da ist ein Zeitdokument entstanden - und das sogar als Prozess. Denn sie blieben ja nicht die Kinder, die sie waren. Wir haben das durchgezogen bis zur zehnten Klasse, zum Beruf oder wie sie selber Familien gründeten. Wir haben es geschafft, bei vielen bis 2005 an der Seite zu bleiben. Heute haben wir 18 Portraits zur Verfügung. Und das ist einzigartig: Man kann nie wissen, was aus einem Menschen wird. Wir sind nicht die einzigen, aber wir sind die ersten gewesen. Und wir haben versucht, das Bestmögliche festzuhalten.
Wie geht es den Kindern von Golzow?
Wie gesagt: Von den 24, die es mal ursprünglich waren, sind 18 Portraits entstanden. Ich kann nicht sagen, dass ich heute noch alle kenne. Drei sind auch schon gestorben. Das ist traurig. Aber dann gibt es auch andere, die nach der Wende nicht mehr weiterwollten. Von den 18 kann ich heute noch fünf besuchen. Alles andere ist vergangen. Eine Fortsetzung wäre also nicht möglich. Aber keiner ist mir böse, sie wollen bloß in der neuen Zeit nichts mehr öffentlich machen.
Ihnen schlug mit dem Projekt ja auch viel Kritik entgegen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich konnte nur von dem ausgehen, was ich kann, und habe es gemacht. Es waren keine Interviews, sondern Gespräche, wo wir mal Kamera und Mikrofon eingeschaltet haben. Wir haben uns einfach vor der laufenden Kamera weiterunterhalten. Und wenn es darum ging, etwas Bestimmtes zu erfragen oder eine staatserhaltene Äußerung zu kriegen, habe ich vielleicht auch insistiert, bis sie merkten, worauf ich hinaus will. So wie jeder Lehrer auch nachfragt, wenn ihm die Antwort nicht reicht. Das nehmen uns Zuschauer übel. Aber wir hatten nur wenig Material - Kassetten von zwei bis vier Minuten - und wenn zwei Minuten gedreht worden waren, musste etwas entstanden sein. Eine Antwort, die man veröffentlichen und durch die Zensur, beziehungsweise Abnahme gehen konnte. Ich musste schon lenken.
Was ist von Ihrem Werk heute noch geblieben und welche Bedeutung hat es noch?
Von uns ist immer wieder die Rede und es werden Filme gezeigt. Es war damals gar nicht zu ahnen, das daraus 42,5 Stunden Film werden. Und es sind immer wieder neue Zuschauer-Generationen, die das auch sehen wollen. Wir haben etwa gerade im Kino Babylon in Berlin mit 150 Leuten eine Diskussion geführt. Wenn man so eine Bestätigung erfährt, dann macht man auch weiter. Wenn ich gemerkt hätte, es ist alles DDR und vorbei, hätte ich aufgehört. Aber so merkt man, dass wir etwas erhalten, was die Leute gerne wieder sehen wollen. Kinder sind auch diejenigen, die von ihren Eltern angehalten werden, sich damit zu beschäftigen. Es ist besser gelaufen, als ich je gedacht hätte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview ist eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Gespräch führte Tony Schönberg für Antenne Brandenburg.
Sendung: Antenne Brandenburg, 01.09.2021