Polen vor der Wahl - "Ich fühle mich nicht mehr wie in einem demokratischen Land"

Mi 06.05.20 | 16:31 Uhr
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Thomasz Pilarski schaut von der Stadtbrücke in Frankfurt (Oder) nach Polen.
Video: Brandenburg Aktuell | 04.05.2020 | Larissa Mass | Bild: rbb/Brandenburg Aktuell

Trotz Corona-Krise möchte die polnische Regierung am 10. Mai die Präsidentschaftswahl durchführen. Der Senat lehnt das neu geschaffene Briefwahlgesetz ab. Politiker rufen zum Boykott auf. Das letzte Wort hat nun die erste Kammer des Parlaments. Von Larissa Mass

Tomasz Pilarski zeigt sich erleichtert: Das erste Mal geht er seit knapp vier Wochen wieder über die Stadtbrücke von Słubice nach Frankfurt (Oder)als Arbeitspendler. Er arbeitet im deutsch-polnischen Tourismusbüro auf der deutschen Seite. Aber aufgrund der polnischen Quarantänebestimmungen für Pendler hatte er entschieden, mit seiner Familie auf der polnischen Seite zu bleiben.

Doch in Polen beschäftigte ihn nicht nur die Frage, wie die Regierung die Corona-Situation meistert. Denn sein Heimatland steht kurz vor den Präsidentschaftswahlen - und Pilarski beklagt, dass weder ein normaler Wahlkampf noch faire Bedingungen zur Wahl herrschten: "Ich fühle mich nicht mehr wie in einem demokratischen Land. Es ist für mich auch sehr peinlich, dass der Staat das so durchsetzt."

Briefwahl verstößt gegen die Verfassung

Am 10.Mai soll ein neuer Präsident in Polen gewählt werden. Doch wegen der Corona-Sicherheitsbestimmungen können keine Wahllokale geöffnet werden. Die regierende PiS-Partei hat deswegen entschieden eine Briefwahl durchzuführen. Doch so eine spontane Gesetzesänderung zu den Wahlbedingungen ist in Polen eigentlich gar nicht möglich: Ein Verfassungsgerichtsurteil besagt, dass jede Änderung am Wahlgesetz sechs Monate Vorlaufzeit braucht.

Mehrere Bürgermeister, darunter auch Mariusz Olejniczak, Bürgermeister der Frankfurter Nachbarstadt Słubice, haben schon Anfang April gegen das Vorgehen der Regierung protestiert und Unterschriften für eine Verschiebung gesammelt. Doch die Regierung hält an dem Termin fest.

Dagmara Jajeśniak-Quast, Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien an der Frankfurter Viadrina-Universität, blickt besorgt auf das Vorgehen: "Die Wahlen entsprechen nicht der polnischen Verfassung. Die Kriterien Gleichheit, Anonymität, Allgemeinheit und Direktheit sind nicht gegeben." Einen weiteren Kritikpunkt sieht die Politikwissenschaftlerin in dem Wahlkampf, der nicht stattfinden konnte. Die Parteien hätten keine Chance gehabt, sich und ihr Parteiprogramm gleichwertig während der Corona-Krise zu präsentieren.

Ausdruck des polnischen Wahlzettels 2020.

Aufruf zum Boykott

Deswegen mehrt sich der Aufruf von polnischen Politikern, die Wahl zu boykottieren. Unter ihnen ist auch Donald Tusk, der ehemalige EU-Ratschef. In einem Youtube-Video sagt er, dass er nicht an der bevorstehenden Wahl teilnehmen werde. Zum einen betont er, dass die Änderungen des Wahlgesetzes nicht mit der Verfassung einhergehe. Außerdem sei die Anonymität der Briefwahlen nicht gewährleistet.

Für Tomasz Pilarski stellen die schon online einsehbaren Wahlzettel nach seiner Aussage ebenfalls einen Skandal dar. Auf der einen Seite solle der Bürger sein Kreuz setzen, auf der anderen Seite seinen Namen und die Identifikationsnummer, sagt Pilarski. Damit sei keine Anonymität der Wahl möglich. Für ihn stehe fest, dass er an dieser Wahl nicht teilnehmen werde.

Entscheidung kurz vor Wahltermin

Aktuell  führt  in den Umfragen Andrzej Duda von der amtierenden nationalkonservativen PiS. Jajeśniak-Quast sieht darin auch den Grund, warum die Regierung den Wahltermin nicht verschieben möchte: "Die Regierung hat jetzt Angst, dass nach der Krise der amtierende Präsident nicht gewählt werden würde, da die Probleme dann sichtbar werden. Deswegen boxen sie diese Wahl jetzt durch."

Dabei steht eigentlich noch gar nicht fest, ob die Wahl per Post rechtlich wirklich stattfinden darf.
Am Dienstag hat der polnische Senat bereits das von der Regierung unterstützte Gesetz abgelehnt, das die Briefwahl ermöglichen würde. Das letzte Wort hat aber der Sejm, die erste Kammer des Parlaments. Das Abgeordnetenhaus soll noch in dieser Woche darüber abstimmen, also kurz vor dem Wahltermin.

Damit könnte es sein, dass der Termin doch noch kurzfristig verschoben wird - doch Jajeśniak-Quast hält es nach eigener Aussage auch für möglich, dass die Wahl trotz einer Ablehnung von der Regierung durchgeführt wird.

Sendung: Brandenburg aktuell, 04.05.2020

12 Kommentare

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  1. 12.

    Lieber Klaus P, der hervorragende Artikel "Corona-Proteste unter falscher Flagge" beschreibt genau, was Du gerne hättest. Zurecht wird davor gewarnt. Denk mal darüber nach und orientiere Dich nicht an falsche Vorbilder!

  2. 11.

    Minderheitenmeinungen sind selbstverständlich nicht ohne Belang. Wer aber seine Meinung in verbotenen Demonstrationen unter Verletzung der Abstandsregeln und Mißachtung polizeilicher Anordnungen kundtun muss, dessen Meinung zählt für mich nicht im Geringsten. Zumal oft eine extremistische Attitüde mitschwingt.

  3. 10.

    Wenn ich Ihnen folge, gilt also ausschließlich das Votum der Mehrheit, Minderheitenmeinungen sind ohne Belang. Wunderbar, dann ist doch auch in Polen alles in Butter, wo sich die Mehrheit nicht nur in repräsentativen Umfragen, sondern sogar in echten Wählen für eine PiS-Regierung entschieden hat.

    Ich will den RBB auch nicht dafür kritisieren, dass abweichend von diesem Votum bei Artikeln über Polen nie Anhänger der PiS gefunden werden. Möglicherweise gibt es unter den interviewten "Grenzgängern" auch keine, weil diese zu den mobilen und liberalen "Anywheres" gehören. Die Mehrheit in Polen selbst besteht aber aus den lokal verwurzelten, konservativen "Somewheres".

  4. 9.

    Dachte zuerst, wow, endlich ein selbstkritischer Bericht beim RBB über den deutschen Politbetrieb mitsamt den dazugehörigen öffentlich-rechtlichen Medien. Sowas will man mal lesen!

    Ach nee, geht ja um Polen...

  5. 8.

    Ein typischer Anti-Demokratischer Kommentar. Representative Umfragen ergeben, die Mehrheit ist für die Corona-Maßnahmen. Wie können da ein paar hundert Krakeeler eine demokratische Willensbekundung für sich beanspruchen? Im übrigen haben wir keine Verfassung, sondern ein Grundgesetz. Und für dieses demonstrierst Du definitiv nicht. Widerliche Heuchler, die sich arglistisch auf das GG berufen, um die Demokratie abzuschaffen, kann ich nicht ausstehen.

  6. 7.

    Der Artikel ist obsolet. Tagesschau.de: "Polen verschiebt seine Präsidentschaftswahl auf unbestimmte Zeit."

  7. 6.

    Sie wollen also den Rechtsstaat abschaffen oder haben sie sich nicht umgeschaut, wer dort eigentlich mit läuft. Das sie für die Verfassung demonstrieren nimmt ihnen übrigens keiner ab.

  8. 5.

    Ich sehe leider auch viele Parallelen bei uns. Sind wir noch ein demokratischer Staat?

    Auch ich und offensichtlich viele tausend anderen Mitbürger, die jedes Wochenende im ganzen Land gegen die politischen Coronamaßnahmen und für die Verfassung demonstrieren, sehen das auch.

  9. 4.

    Normalmenschen haben andere Sorgen. Z. B., dass sie die Grenze nicht mehr passieren dürfen, einen "atemberaubenden" Lappen im Gesicht tragen sollen, Freunde nicht mehr besuchen dürfen und viel Härteres, namentlich die berechtigte Angst um das notwendige Einkommen, um hier oder in Polen überleben zu können!

  10. 3.

    Schaut doch etwas nach sowjetisch-diktatorischer Annäherung aus.

  11. 2.

    Bitte schreiben Sie nicht von allen Deutschen, wenn Sie nur sich meinen!

  12. 1.

    Tja, da geht's den Polen wie den Deutschen.

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