Flussausbau in Polen und Brandenburg - Leitplanken für die Oder führen zu Streit
Polen drängt auf eine Vertiefung der Oder. Eisbrecher sollten den Fluss besser befahren können, heißt es. Doch zu den geplanten Baumaßnahmen haben Wirtschaftsvertreter, Politiker und Naturschützer ganz unterschiedliche Ansichten. Von Fred Pilarski
"Um hier zu fahren muss man sich gut auskennen: Es ist wie eine Autofahrt in den Bergen, nur ohne Bremsen", sagt Leszek Kieltyka, ein Schleppkahn-Kapitän aus Stettin. Die Oder ist voller Untiefen, immer wieder ändert sich die Fahrrinne. Als Transportweg nach Breslau hat der Fluss kaum noch Bedeutung. In den letzten Jahren gab es immer längere Niedrigwasserphasen.
Schon seit längerer Zeit will die polnische Regierung das ändern und plant den Ausbau der Oder als Wasserstraße, die durchgängig für Binnenschiffe befahrbar sein soll.
Für das aktuelle Paket mit Baumaßnahmen auf dem gemeinsamen Grenzabschnitt der Oder ist allerdings ein anderes Ziel formuliert: Hochwasserschutz. Auf zunächst vier Abschnitten der insgesamt 162 km langen Grenzoder sollen dafür Bauarbeiten stattfinden: Zwischen Frankfurt (Oder) und Slubice, zwischen Reitwein und Küstrin, bei Hohenwutzen und südlich von Schwedt.
Tiefgang für die Eisbrecher
Als Ziel wird darin angegeben, Eisbrechern die meiste Zeit einen Tiefgang von 1,80 Meter zu garantieren. Damit soll verhindert werden, dass sie mögliche Eisbarrieren nicht erreichen, hinter denen sich Winterhochwässer aufstauen können. Naturschützer halten das allerdings für einen Vorwand, um mehr Binnenschifffahrt durchzusetzen.
Zerbröckelnde Buhnen
Tatsächlich ist die Oder flach und selten schiffbar. Um das zu ändern, müsste der Fluss mehr Tempo bekommen und sich tiefer in sein Bett graben. Deshalb ist geplant, Hunderte Buhnen zu überarbeiten. Das sind jene Steinaufschüttungen, die wie Stacheln quer in den Fluss ragen und im Laufe der Jahrzehnte schon ziemlich stark zerbröckelt sind. Durch sie wird die Oder, vereinfacht gesagt, an den Rändern gebremst und in der Mitte beschleunigt.
An einigen Engstellen des Flusses kommen noch sogenannte Parallelwerke dazu. Die muss man sich wie steinerne Leitplanken vorstellen. Um die Oderinsel von Küstrin etwa soll sich so ein Bauwerk in einem anderthalb Kilometer langen Halbkreis ziehen. An mehreren Stellen sollen zudem kleinere Uferabschnitte mit Steinaufschüttungen befestigt und die Flusssohle ausgebaggert werden. In den Grundzügen gehen diese Ausbaupläne auf ein Konzept der Bundesanstalt für Wasserbau [wsa-oder-havel.wsv.de] in Karlsruhe zurück.
Zugang zur Ostsee
Bei dem Vorhaben beruft sich die polnische Umweltverwaltung auf ein Abkommen mit Deutschland aus dem Jahr 2015. Darin sichert die deutsche Seite zu, ähnliche Arbeiten auf ihrer Seite auszuführen.
Dass beide Seiten dabei nicht nur den Hochwasserschutz, sondern auch die Binnenschifffahrt im Sinn hatten, geht aus einem speziellen Absatz des Abkommens hervor: Die Klützer Querfahrt, ein Abzweig der Oder zum Schwedter Hafen, darf für den Einsatz von Küstenmotorschiffen ausgebaggert werden – eine Übereinkunft zugunsten des Schwedter Hafens und der dortigen Papierindustrie, die somit Zugang zur Ostsee erhalten soll.
Vogel: Verheerende Auswirkungen
Beide Seiten versprechen, für ihre Vorhaben grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen durchzuführen. Für die polnische Seite ist dieses Verfahren in diesem Jahr gelaufen - doch es sorgt für jede Menge Ärger.
Brandenburgs Umweltminister Axel Vogel (Bündnis 90/Grüne) hat über eine Anwaltskanzlei gegen den Bescheid der Stettiner Umweltverwaltung Widerspruch einlegen lassen. Mit scharfen Worten: Die Bemerkungen und Stellungnahmen des Landes und anderer Beteiligter seien "völlig außer Acht" gelassen worden, der Plan könnte "verheerende Auswirkungen auf den Zustand der Oberflächengewässer" haben. Die Ausbaupläne gingen zudem weit über den zwischen den Regierungen vereinbarten Rahmen hinaus.
Zweifel an der Datenbasis
Ärger gab es bereits, als sich im Januar Vertreter des Bundesumweltministeriums in Stettin über die Pläne informiert hatten. Die deutsch-polnische Regierungskonsultation endete mit einem frostigen Protokoll der Uneinigkeit. Wichtigster Vorwurf von deutscher Seite: Den polnischen Wasserbau-Planern würden schlicht die Daten fehlen, um beurteilen zu können, wie sich ihr Tun auf die umgebende Natur, auf Grundwasserstände und auf Hochwasserlagen auswirkt. Das Rechenmodell der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW), auf das sich die polnische Seite beruft, reiche demnach bei weitem nicht aus, um so weitreichende Einschätzungen zu treffen.
Tatsächlich formuliert die BAW diese Einschränkung in ihrem Stromregelungs-Konzept sogar selbst (Abschnitt 5.2). Gefordert werden vielmehr Untersuchungen nach dem 2D-HN-Verfahren, einem Standard, der wesentlich komplexere Simulationen erlaubt.
Die Mole wird verrückt
Während der Umweltverträglichkeitsprüfung gab es zahllose Anmerkungen und Einwendungen von Naturschutzverbänden und vom Brandenburger Umweltministerium gegen das Projekt. Der Zweifel an der Datengrundlage zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Anfragen.
Für Frankfurt und Hohenwutzen etwa werden mit den vorliegenden Daten bei Hochwasser zwölf Zentimeter höhere Pegelstände geschätzt. Der Oberbürgermeister von Frankfurt will dies lieber genau wissen und mahnt entsprechende Modelluntersuchungen an. Verbessern könnte sich die Frankfurter Situation allerdings an der Grenzbrücke: Die Mole für den Slubicer Hafen soll näher an das polnische Ufer gerückt werden, um den Wasserdurchfluss unter der Grenzbrücke zu verbessern und die Gefahr zu mildern, dass sich an den Brückenpfeilern Eisschollen bilden.
Polnische Umweltbehörde: Keine Gefahr
Der Umweltschutzdirektor von Stettin - er vertritt die Genehmigungsbehörde - ist überzeugt, dass die Baumaßnahmen die Hochwassergefahren nicht verschärfen. Auch die von den Naturschützern befürchteten Grundwasserabsenkungen werde es nicht geben. "Daher werden keine wesentlichen Veränderungen der Bedingungen für das Vorkommen natürlicher Lebensräume und verwandter Tierarten in der Oder und ihrem Tal erwartet", heißt es in seinem Bescheid. Sollte er recht behalten, wäre zum Beispiel die Sorge um den Nationalpark Unteres Odertal überflüssig.
Verschlechterung für zehn bis 20 Jahre
Sascha Maier, Fluss-Experte der Organisation "Rewilding Europe", sieht das anders. Er glaubt zwar, dass der Rückstau der Ostsee und der Zufluss der Warthe für das Unteren Odertal stabilisierende Wirkungen haben. Sorge macht ihm aber der Bereich der mittleren Oder zwischen Küstrin und Ratzdorf. "Wenn die Oder sich weiter eintieft, sinkt auch der Grundwasserstand und wirkt sich auf das Land hinter dem Deich aus." Das könnte Konsequenzen für das Oderbruch haben. Aber auch Flussauen-Landschaften wie etwa südlich von Frankfurt oder bei Lebus könnten austrocknen.
Erhebliche Auswirkungen dürften die Arbeiten für die Lebensräume von Fischen in der Oder haben. Hinter den alten Buhnenköpfen hatten sich durch Strömungswirbel tiefe Löcher, sogenannte Kolke gebildet. In diesen Vertiefungen und in Unterwasserdünen haben viele Fischarten ihre Laichgründe. Wanderfische wie Lachs und Stör können sich an diesen Stellen ausruhen. Durch den "tiefergelegten" und beschleunigten Fluss werden solche Unebenheiten einfach weggebügelt. Das räumt der Umweltbescheid sogar ein: "Die Durchführung der geplanten Investition wird die seit mehreren Jahrzehnten stattfindenden Prozesse der spontanen Flusswiederherstellung bis zu einem gewissen Grad umkehren und in einem kurzen Zeitraum (10-20 Jahre) eine periodische Verschlechterung der hydromorphologischen Bedingungen und eine Verarmung der Lebensräume verursachen."
Die Oder ist kein wilder Fluss
Man könnte die Oder sich selbst überlassen, fordern einige Naturschützer, etwa die polnischen Fluss-Schwestern. Sie sehen die Oder als "wilden Fluss", dem man seinen natürlichen Lauf lassen sollte. Tatsächlich gehört die Oder zu den letzten Strömen Mitteleuropas, die noch auf langen Abschnitten frei fließen können und vor allem im Unterlauf großflächige Auenschutzgebiete haben.
Und dennoch ist die Oder auch ein regulierter Fluss. Das Buhnensystem ist im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Die "Neue Oder" im Mittellauf schon im 18. Jahrhundert. Das ganze Be- und Entwässerungssystem des Oderbruchs beruht auf einem komplizierten Zusammenspiel zwischen "alter" und kanalisierter Oder. Kultur- und Naturlandschaft wechseln sich ab.
Ob der Fluss aber wieder eine leistungsfähige Binnenwasserstraße werden muss, diese Frage wird wohl noch in den nächsten Jahren heftig diskutiert werden. Spätestens, wenn die Umweltverträglichkeitsprüfungen für die Arbeiten am deutschen Ufer anstehen. Bis 2028 sollen auch hier alle Schäden an den Buhnen repariert sein.