Massiver Streit mit der EU - Polnisches Verfassungsgerichtsurteil löst in Brandenburg Verunsicherung aus

Das polnische Verfassungsgericht stellt klar: Für Polen ist das eigene Recht entscheidender als EU-Recht. Ein sogenannter "Polexit" könnte nun real werden. Die Brandenburger Wirtschaft zeigt sich schockiert. Von Georg-Stefan Russew
Zwischen der polnischen Regierung und der EU gibt es einen handfesten Streit. Hintergrund dafür ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Das urteilte am Donnerstag, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der Landesverfassung vereinbar seien. EU-Recht stehe nicht immer über nationalem Recht. Diese Grundsatzentscheidung stellt einen Eckpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft in Frage. "Wenn ein Land sich politisch dafür entscheidet, Teil der EU zu sein, muss es auch dafür Sorge tragen, die vereinbarten Regeln voll und ganz umzusetzen", erklärte Außenminister Heiko Maas (SPD).
Hintergrund ist, dass die nationalkonservative polnische PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren umbaut. Kritiker werfen ihr vor, Richter unter Druck zu setzen. In ersten Reaktionen wurde am Freitag die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Polen die Europäische Union verlassen könnte.
"Polexit" - "ein absolut dramatisches und hoffentlich nicht zu realisierendes Szenario"
Sich ein konkretes Bild von der polnischen Politik zu machen, sei nicht einfach, sagte Politikwissenschaftlerin Dorota Piontek von der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan. "Die aktuell Regierenden sind nicht berechenbar, da sie häufig Entscheidungen treffen, die gegen die Vernunft sprechen." Das seien häufig "irrationale Handlungen, die auf Vorurteilen und Stereotypen beruhen, auf Xenophobie, auf Mangel an Verständnis für demokratische Freiheit, sowie aufgrund von fehlender Akzeptanz von Vielfalt", so Piontek weiter.
Daher könne sie nicht vorhersehen, was noch passieren werde. Per se sei es nach polnischem Recht möglich, dass der Sejm, das polnische Parlament, nach der Gerichtsentscheidung über die EU-Mitgliedschaft Polens befinde. Um den Austritt zu beschließen, genüge eine einfache Parlamentsmehrheit. "Der Präsident unterzeichnet das und wir verlassen die EU. Das ist für mich ein absolut dramatisches und hoffentlich nicht zu realisierendes Szenario", so Piontek weiter.
Ostbrandenburger Wirtschaft reagiert schockiert
Für die Akteure in Ostbrandenburg scheint dies ein gar nicht ausgeschlossenes Szenario, wie Knut Thiel von der Industrie- und Handelskammer Ostbrandenburg sagte. Er macht sich nach eigener Aussage wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Brandenburg und Polen große Sorgen. "Also wir waren schon schockiert von dieser Meldung, greift diese doch tief in unsere Wirtschaftsbeziehungen im deutsch-polnisch-nahen Raum ein, wenn es so kommen würde", sagte Thiel.
Allein in Ostbrandenburg haben sich 1.000 polnische Unternehmen niedergelassen. 15.000 polnische Arbeitskräfte verdienten hier ihr Geld. Es sei nicht auszudenken, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit wegfallen würde, wenn Polen aus der EU herrausgehen würde, sagte Robert Radzimanowski, der bei der IHK Ostbrandenburg zuständig für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist. "Der Puls ist etwas beschleunigt, gerade weil wir hier so stark von der Zusammenarbeit mit Polen abhängig sind. Weil wir die Verkehrsströme durch die Region haben und Corona schon gezeigt hat, wie eng eine kleine Ursache ganz große Wirkungen zeigen kann", so Radzimanowski. Schon bei den Grenzschließungen wegen der Pandemie seien die Folgen enorm gewesen. "Die Grenzstaus, die Verzögerungen, die in den Geschäftsbeziehungen entstanden sind, die bis hin zu Unterbrechungen und Abbruch von Lieferketten führten. Das sind Sachen, die enorme volkswirtschaftliche Schäden für beide Seiten bedeuten."
Die Fassungslosigkeit ist nicht zu übersehen. Unsensibel dürfe aber auf die nicht reagiert werden, betonte Toralf Schiwietz von Netzwerk Europaregion Pro Europa Viadrina. "Das ist eher die Frage, ob man das mit erhobenem Zeigefinger das Ganze macht oder mit erhobenem Zeigerfinger und mit der gereichten Hand den Dialog führt. Und wenn auch die Hand nicht genommen wird, dann müsste man die Hand zu mindestens offenhalten."
EU-Kommission will polnische Entscheidung gründlich analysieren
Die EU-Kommission teilte am Freitag mit, dass die Brüsseler Dienste das Urteil gründlich und zügig analysieren würden. Auf dieser Grundlage werde man über nächste Schritte entscheiden. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte dazu in Berlin: "Die Kommission hat dabei das volle Vertrauen der Bundesregierung."
Scharfe Töne kommen von den Grünen. "Wer EU-Recht missachtet, darf auf Dauer nicht von den Vorteilen der EU-Mitgliedschaft profitieren", forderte die stellvertretende Grünen-Vorsitzende, Jamila Schäfer. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, "setzt die polnische Regierung de facto die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union aufs Spiel".
Das Bundesverfassungsgericht hat teim Mai 2020 milliardenschwere Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank beanstandet - und sich damit zum ersten Mal gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gestellt. Die polnische Regierung deutet dieses Urteil in ihrem Sinne. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht nie den grundsätzlichen Vorrang von EU-Recht infrage gestellt. Karlsruhe behält sich lediglich in bestimmten, sehr seltenen Fällen die Letztkontrolle vor.
In Polen selbst formiert sich unterdessen Widerstand gegen die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts. Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk rief per Twitter zu Demonstrationen auf. "Wir müssen Polen retten, niemand wird es für uns tun. Wir treffen uns diesen Sonntag um 18 Uhr am Plac Zamkowy in Warschau. Polen ist unser Engagement wert, unsere Zukunft ist es wer!", schrieb er auf Twitter.
Sendung: Antenne Brandenburg, Antenne am Nachmittag, 08.10.2021, 16:40 Uhr