Fluchtroute über Belarus - Polen denkt wegen angespannter Grenzlage offen über Nato-Bündnisfall nach

Die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze bleibt angespannt, hat aber an der massiven Schärfe von Montag verloren. Mehrere Hundert Geflüchtete verbrachten die Nacht im Niemandsland zwischen den beiden Ländern.
Nach den verstörenden Bildern vom Montag haben die polnischen Behörden eine ruhige Nacht gemeldet. Die örtliche Polizei sprach von einem Steinwurf in Richtung eines Polizeifahrzeugs an der Grenze. Bilder des Grenzschutzes zeigten, wie eine größere Gruppe von Migranten auf der anderen Seite des Grenzzauns unweit eines nun geschlossenen Grenzübergangs ein Zeltlager errichtet und Lagerfeuer entzündet hatte.
"Die vergangene Nacht ist ruhig verlaufen. Die dort versammelten Menschen - nach unseren Schätzungen bis zu 800 - bauten Zelte auf, organisieren ein Lager - selbstverständlich alles unter Aufsicht belarussischer Dienste. Die Menschen haben sich nicht aggressiv verhalten. Wir haben die ganze Nacht über in verschiedenen Sprachen verbreitet, dass ein Grenzübertritt an dieser Stelle absolut verboten ist und Personen nach Belarus zurückgewiesen werden", so Katarzyna Zdanowicz, Sprecherin des Grenzschutzes im polnischen Außenbezirk Podlasie.

Parlamentschefin sieht nicht nur Angriff auf polnische Grenze
In Warschau hatte am Montagabend die Sejm-Vorsitzende Elzbieta Witek - formal Nummer zwei im Staate - in einer Rede vor der polnischen und einer EU-Flagge - die zuletzt nicht immer zu sehen war - zur Lage gesprochen. Der belarussische Machthaber Lukaschenko nutze Migranten auf zynische Weise als menschliche Schutzschilde, erklärte sie. Und wie dieser Tage andere Vertreter der PiS-Partei auch bis hin zum Premierminister unterstrich auch sie besonders, dass es sich eben nicht nur um eine polnische Grenze handele. "Der Angriff auf die polnische Grenze ist ein Angriff auf die EU und ein Nato-Mitglied. Schon heute haben unsere Verbündeten diese Aggression solidarisch und eindeutig verurteilt und aufgefordert, sie sofort zu beenden", erklärte Witek.
Oppositionsführer Tusk sieht erste Stufe des Nato-Bündnisfalls verwirklicht
Derweil fordert die politische Opposition in Polen zunehmend nachdrücklich eine Internationalisierung. Bislang wollte Polen aber weder auf die Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex zurückgreifen noch internationale Hilfsorganisationen an die Grenze lassen. Oppositionschef Donald Tusk forderte sogar Artikel vier des Nato-Vertrags zu aktivieren, die erste Stufe des sogenannten Bündnisfalls.

"Wir arbeiten auf Expertenebene ständig sowohl mit Frontex als auch mit der Nato zusammen. Beide haben ihre Unterstützung für unser Vorgehen an der Grenze artikuliert. Zurzeit haben wir als Regierung den Entschluss gefasst, dass die polnische Grenze vor allem durch polnische Kräfte und Soldaten geschützt wird. Wir wissen, dass die Krise noch lange andauern wird, und schließen nicht aus, dass Hilfe der Alliierten noch nötig sein wird, aber im Moment sind unsere Leute im Einsatz", erklärte der Sprecher des polnischen Geheimdienstkoordinators, Stanislaw Zaryn.
Polnischer Premier am Dienstagmorgen in der Grenzregion
Im Morgengrauen hatte Premier Mateusz Morawiecki am Dienstag Grenzsoldaten im Sperrgebiet besucht. Die Behörden verbreiteten dazu dann effektvolle Bilder unter dramatischen Wolkenformationen aus einer Region, in die normale Pressefotografen seit Monaten nicht mehr vorgelassen werden und Aufnahmen etwa von der Grenze streng verboten sind.
Morawiecki dankte den Grenzschützern für ihre so wörtlich "professionelle Arbeit" unter "voller Achtung der Menschenwürde". Er beklagte, dass polnische Hilfskonvois, die das Land organisierte, an den regulären Übergängen nicht über die Grenze nach Belarus gelassen würden. Bei früherer Gelegenheit hatten Behördenvertreter auf die Frage, warum diese Hilfsgüter nicht direkt an die Grenze gefahren und über den Grenzzaun geworfen würden, erklärt, ein solches Vorgehen wäre illegal. Die Migranten befänden sich auf belarussischem Gebiet und müssten entsprechend von dort versorgt werden.
Rund 600 Geflüchtete im November in Brandenburg angekommen
Mit Stand Dienstag wurden allein Brandenburg in den ersten acht Tagen des Novembers knapp 600 illegale Einreisen mit Belarus-Bezug von der Bundespolizei festgestellt. Im Gesamtverlauf der deutsch-polnischen Grenze entfallen damit auf Brandenburg rund die Hälfte aller illegalen Einreisen im November. Eine Einschätzung, wie sich die Lage weiterentwickelt, wollte eine Sprecherin der Bundespolizei nicht geben. Dazu sei die Entwicklung viel zu dynamisch, betonte sie. Bisher nahm die Bundespolizeidirektion Berlin in 2021 bisher 4.890 unerlaubt eingereiste Personen mit Belarus-Bezug in Gewahrsam. Die Personen stammen vorrangig aus dem Irak sowie aus Syrien, dem Jemen und Iran.
Sendung: Antenne Brandenburg, 09.11.2021
Mit Material von Jan Pallokat
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