Interview | Spannungen in Osteuropa - "Russland ignoriert, dass die Ukraine ein eigenes Existenzrecht hat"

Die USA und Russland verhandeln aktuell in Genf über eine Beilegung des Ukraine-Konflikts. Die Ukraine selbst ist nicht mit dabei. Timm Beichelt, Osteuropa-Experte der Viadrina, beobachtet die Gespräche - und dämpft Erwartungen an mögliche Ergebnisse.
Seit Wochen wächst die Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland im Osten Europas. 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim. Seit 2015 gibt es eine Waffenruhe. Doch seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres schickt Russland wieder Truppen an die ukrainische Grenze.
Seit Montag setzen die Vizeaußenminister der USA und Russlands offiziell Verhandlungen über eine Entspannung des Ukraine-Konflikts fort. Im Mittelpunkt steht der Truppenaufmarsch und die Forderung Moskaus nach Sicherheitsgarantien der Nato. Im Verlauf der Woche wollen auch die Nato-Staaten mit Moskau über mögliche Wege aus dem Konflikt beraten. Der Osteuropa-Experte Timm Beichelt von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) beobachtet die Verhandlungen.
rbb|24: Herr Beichelt, wie empfinden Sie aktuell die Situation in der Grenzregion?
Timm Beichelt: Mit Bedrückung, weil es vor einigen Jahren und Jahrzehnten in Europa eigentlich so aussah, als ob die langfristigen Differenzen und Konfrontationen der Vergangenheit angehören würden. Aber das ist jetzt offenbar nicht mehr der Fall. Ganz unabhängig vom Ausgang der jetzigen Verhandlungen und der Krise, ist das eine nicht so schöne Entwicklung.
Welchen Eindruck machen die derzeitigen Verhandlungen, die ja zunächst ausschließlich zwischen der USA und Russland stattfinden, auf Sie?
Man muss festhalten, dass Russland der Partner und Konfliktpartner war, der die USA an den Verhandlungstisch gezwungen hat. Es gibt ja nicht nur die Charta von Paris von 1990, in der festgestellt wurde, dass Selbstbestimmung und Demokratie zur europäischen Staatenordnung gehören, sondern allgemein das Völkerrecht. Russland setzt sich darüber hinweg, dass Länder und Staaten wie die Ukraine, aber auch das Baltikum, ein eigenes Existenzrecht haben. Das kommt im russischen Denken nicht vor. Und das ist auch der Haupt-Konfliktpunkt.
Deswegen bin ich auch nicht besonders optimistisch. Denn ein Land, das seinen Nachbarn keine eigene Existenzberechtigung zuschreibt, ist auch nicht mit Kompromissen einzuholen. Russland will die Ukraine bei den Gesprächen nicht dabeihaben. In Sachen Existenzrecht der Ukraine kommt man nicht weiter, ohne dass sich in Moskau die grundsätzliche Haltung ändert.
Vor Kurzem hat Grünen-Chef Robert Habeck sich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Dem widerspricht Parteikollege Jürgen Trittin und setzt auf wirtschaftliche Konsequenzen haben. Ist es sinnvoll, den Druck auf Russland auszuweiten?
Es ist das Bedrückende, dass man nur noch in Kategorien von Druckausüben und Sanktionen spricht. Und auch politische Akteure, die früher einmal anders gedacht haben - wie etwa Bündnis 90/Die Grünen, jetzt gar keine anderen Optionen mehr bleiben. Sicherlich kann man darüber nachdenken, ob Russland wirtschaftlich geknebelt werden kann. Man kann bei der Nordstream-2-Pipeline bremsen. Die ist wahrscheinlich sowieso schon nicht mehr zu retten.
Man kann auch an andere Dinge denken, aber: Was hat man davon? Mittelfristig geht es dann der russischen Wirtschaft und Bevölkerung schlechter. Dazu kommt, dass sich Russland entweder isoliert - was schlecht ist - oder näher an China heranrückt - was auch keine besonders Demokratie-verheißende Option ist. Also es gibt im Augenblick nur schlechte Optionen.
Was ist mit der deutschen Haltung? Die Ukraine hatte eine Anfrage nach Waffenlieferungen gestellt. Würde es den Konflikt befeuern, wenn Deutschland sich dort einmischt?
Sich damit beschäftigen muss man schon. Ob es sehr schlau ist, wenn ausgerechnet Deutschland die Ukraine militärisch ausrüstet, bin ich skeptisch. Ich denke, dass ein wichtiger Pfeiler der deutschen Außenpolitik schon ist, dass Opfer-Länder der Nazi-Herrschaft nicht von neuem in eine Konfrontation gezogen würden. Und Russland ist eben auch ein Opfer-Staat, einer der wichtigsten sogar. Davon, die Ukraine jetzt gegen Russland aufzurüsten, halte ich wenig. Aber auf der moralisch-symbolischen Ebene kann Deutschland vielleicht noch mehr tun, um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine immer wieder zu betonen.
Sie lehren an der Europa-Universität und haben viele Studierende aus der Ukraine, es ist die zweitgrößte Studiengruppe. Was spiegeln Ihnen die Studierenden zur Konfliktsituation?
Wir versuchen uns an der Viadrina auf dieser Ebene nicht hereinziehen zu lassen. Wir haben nicht nur Studierende aus der Ukraine oder Deutschland, sondern etwa auch aus Polen, Belarus oder Russland. Wir haben den Eindruck, dass die auch miteinander im Dialog sind. Es zeichnet sich eher so etwas ab, dass an den westlichen Universitäten und eben auch hier, solche Studierende Unterschlupf finden, die mit dem autoritären Gebaren und der Re-Autorisierung der Gesellschaft in Russland und dem postsowjetischen Raum nicht gut zurechtkommen. Richtige Putin-Unterstützer habe ich unter den Studierenden nur wenige gefunden. Gleichzeitig weiß man auch von vielen ukrainischen Studierenden, dass sie ganz froh sind, auch mit russischen Studierenden in Seminare zu gehen. Auf der Ebene sehe ich das nicht dramatisch.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Martina Rolke für Antenne Brandenburg. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung.
Sendung: Antenne Brandenburg, 10.01.2022, 14:40 Uhr