Fachkräftemangel bei Physiotherapeuten - "Gefühlt kommen überhaupt keine Bewerber"

Di 27.11.18 | 07:42 Uhr | Von Maximilian Horn
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Physiotherapeut bei der Rehabilitation im Bewegungsbad (Quelle: dpa/Döring)
Bild: dpa/Döring

Berufsverbände schlagen Alarm: In Berlin fehlen Physiotherapeuten. Die Arbeitsagentur sieht lediglich "Anzeichen für einen Engpass". Doch viele Praxen melden ihre freien Stellen gar nicht mehr. Von Maximilian Horn

Wenn es nach Bernd Liebenow geht, gibt es in Berlin viel zu wenige Physiotherapeuten: "Jede Praxis in Berlin und Brandenburg sucht einen Therapeuten oder mehrere", sagt der Landesvorsitzende des Physiotherapieverbands VDB. "Ich kenne keine, die das nicht tut." Er selbst sei als Praxisinhaber ebenfalls betroffen: "Wir suchen seit Oktober einen Therapeuten", sagt Liebenow. Und meint damit den Oktober des letzten Jahres.

Rainer Großmann, Vorstandsmitglied beim Berufsverband Physio und, wie Liebenow selbst Praxisinhaber, sieht das genauso: "Gefühlt kommen überhaupt keine Bewerber", so Großmann. "Initiativbewerbungen gibt es so gut wie gar nicht mehr. Einige Praxen laufen sogar Gefahr, in die Insolvenz zu gehen, weil sie keine Bewerber haben und die Therapeuten aufgrund der zu niedrigen Vergütung in andere Berufe abwandern."

Die Arbeitsagentur sieht nur Anzeichen für Engpass

Ist der Fachkräftemangel bei Physiotherapeuten also Realität? Die Bundesagentur für Arbeit hat in ihrer "Engpassanalyse" von Mitte diesen Jahres dazu beinahe die ganze Deutschlandkarte rot eingefärbt: Rot steht für "Fachkräftemangel". Berlin schimmert als eines der wenigen Bundesländer dagegen in einem harmloseren Grau. Hier diagnostiziert die Agentur lediglich "Anzeichen für einen Fachkräfteengpass". Nur Anzeichen? Wie geht das zusammen mit der Einschätzung der Berufsverbände?

Bei der Arbeitsagentur wird ein Fachkräftemangel nur dann festgestellt, wenn drei Voraussetzungen vorliegen. Es muss erstens weniger als 200 Arbeitslose auf je 100 gemeldete Stellen geben und zweitens darf die berufsspezifische Arbeitslosigkeit drei Prozent nicht übersteigen. In der Berufsgruppe der Physiotheapeuten ("Nichtärztlichen Therapie und Heilkunde", zusammen mit Logopäden, Ergotherapeuten u.a.) waren diese beiden Voraussetzungen zum Erhebungszeitpunkt erfüllt. Nicht aber die dritte Voraussetzung: Die sogenannte "Vakanzzeit".

Anzeichen für einen Engpass, aber kein Fachkräftemangel

Die "Vakanzzeit" ist grob gesagt die Zeit, die es braucht, um eine bei der Agentur gemeldete offene Stelle neu zu besetzen. Um einen Fachkräftemangel feststellen zu können, musste die Vakanzzeit in der untersuchten Berufsgruppe 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt aller Berufe liegen. Der Bundesdurchschnitt lag zum Zeitpunkt der Erhebung bei 107 Tagen - so lange dauerte es also deutschlandweit durchschnittlich, irgendeine bei der Agentur gemeldete Stelle neu zu besetzen. Um das Kriterium "Fachkräftemangel" zu erfüllen, musste die Vakanzzeit bei den Physiotherapeuten in Berlin also bei knapp 140 Tagen liegen (30 Prozent über dem Bundesschnitt).

Genau das war nicht der Fall: Zum Zeitpunkt der Engpassanalyse im Juni 2018 hat die Vakanzzeit in der Berufsgruppe der "Nichtärztlichen Therapie und Heilkunde" (in der unter anderem die Physiotherapeuten erfasst werden, siehe oben) in Berlin bei 114 Tagen und damit nur 6,2 Prozent über dem Bundesdurchschnitt gelegen, teilt die Regionaldirektion der BA Berlin-Brandenburg rbb|24 mit. Zum Vergleich: In Brandenburg, wo die Agentur einen Fachkräftemangel bestätigt, dauerte es im Durchschnitt 187 Tage, um eine offene Stelle zu besetzen - das ist 74,1 Prozent über dem Schnitt.

Fachkräftemangel nach Definition der Arbeitsagentur

  • "Fachkräftemangel"

  • "Anzeichen für einen Engpass"

  • Die Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit

In Brandenburg dauert es also deutlich länger, eine frei gewordene Physiotherapeutenstelle neu zu besetzen, als in Berlin. Als Gründe für den Unterschied zwischen Berlin und Brandenburg nennt die Agentur die höhere Zahl an Physiotherapieschulen (und damit auch Berufseinsteigern) in Berlin, die Attraktivität der Hauptstadt und die höheren Durchschnittsgehälter.

Auch demographische Faktoren spielten eine Rolle: "In Brandenburg ist die Zahl der Jugendlichen, die willens und in der Lage sind, eine Ausbildung zum Physiotherapeuten zu beginnen (und mit Erfolg abzuschließen) infolge demografischer Entwicklungen geringer als in Berlin", so die Bundesagentur.  

Berufsverände: Die Praxen melden ihre Stellen nicht der Agentur

Bernd Liebenow vom Berufsverband VDB bezweifelt trotzdem die Aussagekraft der Agenturzahlen: "Nicht alle offenen Stellen werden der Arbeitsagentur gemeldet", sagt er. "Wir fordern unsere Mitglieder auf, offene Stellen der Agentur zu melden. Aber die kommen dem einfach nicht nach."

Liebenow geht davon aus, dass lediglich ein Drittel der offenen Stellen gemeldet wird. Die tatsächliche Vakanzzeit läge wahrscheinlich eher bei 250 Tagen. Das bestätigt auch Rainer Großmann vom Berufsverband Physio Deutschland. "Ganz sicher gibt es das Fachkräfteproblem in der Physiotherapie auch in Berlin", sagt Großmann. "Durch die geringe Chance auf Erfolg über die Arbeitsagentur einen geeigneten Mitarbeiter zu bekommen, verzichten die Praxisinhaber jedoch meistens auf die Meldung." Bernd Liebenow vom VDB wird deutlicher: "Die Praxen sind genervt", sagt er. "Da kommen dann immer wieder Anschreiben vom Arbeitsamt mit Bewerbungsunterlagen. Aber die Kandidaten kommen gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch."

Rekrutierung im Internet - aber das reicht nicht

Um geeignete Bewerber zu finden, verlassen sich Physiotherapeuten deshalb längst nicht mehr auf die Arbeitsagentur. "Ich habe die Agentur noch nie zur Bewerbersuche benutzt", sagt Physiotherapeut Alexandros Swoch, der eine Praxis in Wilmersdorf hat. "Ich suche über facebook-Gruppen, ebay-Kleinanzeigen oder Instagram. Eben da, wo man die junge Leute findet." Auf diesem Weg sei es ihm gelungen, eine geeignete Kandidatin für seine Praxis zu finden. Insgesamt vier Monate sei die Stelle unbesetzt gewesen.

Perspektiven für die Zukunft

Auch die Arbeitsagentur weiß um die Bedeutung des Internets bei der Vermittlung - aber gibt den nüchternen Hinweis, dass diese Strategie zur Beseitigung des Fachkräftemangels nicht geeignet sei, "da hierdurch die Physiotherapeuten nur umverteilt werden, in der Summe aber nicht mehr werden." Ein wahres Wort. Aber was könnte dann zur "Vermehrung" der Physios beitragen?  

Für die Berufsverbände liegen die Lösungen auf der Hand: Bernd Liebenow vom VDB fordert unter anderem die Abschaffung des Schulgeldes und die Erhöhung der Vergütungen. Ute Repschläger, Vorsitzende des Berufsverbands IFK schließt sich dem an, sieht aber auch eine positive Entwicklung: "Allmählich erkennt auch die Politik die versorgungsgefährdende Situation. Das ist gut, weil wir jetzt unsere Lösungen einbringen können".

Phil Hamann hilft die erwachende Politik bislang wenig. Er sucht weiter auf allen Kanälen, über die Agentur und über das Internet. Der Geschäftsführer eines Physiotherapiezentrums in Charlottenburg würde gern zwei weitere Physiotherapeuten einstellen. "Aber der Markt ist einfach leer." Die Folge: Wartezeiten. Als Kassenpatient bekomme man derzeit nach vier bis sechs Wochen einen Termin, sagt Hamann. Wie lange er schon nach Mitarbeitern suche? "Wir suchen seit wir aufgemacht haben", sagt Hamann. "Und das ist sechs Jahre her."

Beitrag von Maximilian Horn

9 Kommentare

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  1. 9.

    Habe schon oft von der Problematik der Bezahlung und vor allem der Selbstübernahme der Kosten bei Weiterbildungen von Physiotherapeuten gehört. Da kann ich nur glücklich sein, dass meine favorisierte Praxis in BErlin echt fähige Mitarbeiter hat und scheinbar durch entsprechende Angebote auch langfristig halten kann. Die Therapeuten sind sehr gut ausgebildet!

    Meine Empfehlung also diese Art von Physiotherapie weiter unterstützen!!

    Die Praxis ist die Physiotherapie Marsch Berlin-Mitte.

  2. 8.

    Ich beobachte den Markt schon seit vielen Jahren. Es wird unheimlich viel geschwafelt, aber (mit Absicht) nichts gemacht. Hinhaltetaktik ist angesagt, da die Menschen in den Gesundheitsberufen es ja mit sich machen lassen. Ich habe meine Konsequenzen (wie viele andere Kollegen) gezogen und wechsle die Branche (ggfs. das Land). Leider wird sich erst in einigen Jahren für die Physios, Logos, Ergos,...etwas ändern, und zwar erst wenn der Engpass so desolat angewachsen ist, dass der unterversorgte Bürger / Patient die Politik dafür abstraft. Die Zeit und Bereitschaft habe ich nicht und sehe es auch nicht ein.

  3. 7.

    Tja es gäbe noch viele Arbeitskräfte, die will aber der alte Wutbürger nicht, selbst Schuld über die fehlende Pflege später.
    Übrigens für die ganzen Schlaumeier die denn sagen, ach man müsste einfach die Gehälter erhöhen, ja klar gerne, aber würdet ihr dann auch die höheren Preise zahlen ?

  4. 6.

    @5: Huebsche Theorie - die Wirklichkeit: Der Markt schafft (hier) keinerlei Loesung! Siehe seit Jahrzehnten unterbezahlte Aerzte und Pfleger, siehe altuellen Hebammen-Notstand...

  5. 5.

    Wo ist da das Problem? Der Markt wird das schon regeln. Bei einer Knappheit gehen die Preise, also Löhne, rauf, die Arbeitnehmer werden wertvoll, gut behandelt, die Arbeitsbedingungen werden besser und in Folge dessen wandern weniger Arbeitnehmer aus der Branche ab, mehr wandern zu und der Mangel war Geschichte. Wie schon geschrieben: Der Markt wird das regeln.

  6. 4.

    Bevor die Physio- (und aehnlich auch Psycho-)Therapeuten ihre niedrigen Loehne kriegen, muess(t)en sie erstmal kraeftig zahlen: Die Ausbildung kostet teils vier- bis fuenfstellige Betraege. Dass sich das wenige leisten wollen, ist verstaendlich - und die meisten koennen es vor allem gar nicht. Eine weitere Folge von Privatisierungen ehemals oeffentlicher Aufgaben.

  7. 3.

    "..und die Therapeuten aufgrund der zu niedrigen Vergütung in andere Berufe abwandern."
    Tja,was soll man dazu sagen.

  8. 2.

    Die. Lösung ist ganz einfach. Es zieht sich aber in fast allen Berufen im Gesundheitswesen wie ein roter Faden hindurch:
    Man muss die Leute einfach nur angemessen bezahlen.

  9. 1.

    Kein Wunder! Bei der miesen Vergütung der Leistung und diesen "Fließband"-Arbeitsbedingungen!

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