Essen per Rad - Wenn Kurierfahrer ihren eigenen Lieferdienst gründen

Mi 01.01.20 | 15:44 Uhr | Von Franziska Ritter
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Symbolbild: Ein Fahrradkurier fährt mit seinem Fahrrad und einer Lieferung auf dem Rücken durch den Stadtverkehr in Berlin. (Quelle: dpa/Gregor Fischer)
Bild: dpa-Symbolbild/Gregor Fischer

Essenslieferdienste sind gefragt, auch am Neujahrstag. In Berlin haben sich nach der Deliveroo-Pleite im vergangenen Jahr Fahrer zusammengetan und ihr eigenes Unternehmen gegründet. Und das stolperte dann erstmal über seinen eigenen Erfolg. Von Franziska Ritter  

Bis zum Sommer trat Stefano Lombardo für Deliveroo in die Pedale. Im August war dann für ihn und 1.000 Kollegen plötzlich Schluss: Der britische Essenslieferdienst teilte ihnen mit, dass sich das Unternehmen aus Deutschland zurückzieht - und zwar sehr kurzfristig, wie sich Stefano erinnert: "Wir bekamen am Montag eine Mail, dass Deliveroo am folgenden Freitag seine Tätigkeit einstellt." Für den gebürtigen Italiener, der seinen Lebensunterhalt auf dem Rad verdient, war das eine Hiobsbotschaft.

Johnny Stillmark und Stefano Lombardo (Quelle: FotoKotti)
Johnny Stillmark und Stefano LombardoBild: FotoKotti

Als Entschädigung wurde den Fahrern, die auf selbständiger Basis für den Lieferdienst unterwegs waren, zwei Wochengehälter angeboten – sofern sie vertraglich auf weitere Ansprüche gegenüber Deliveroo verzichten. Einige wandten sich an die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Diese riet ihnen dazu, die Vereinbarung nicht zu unterzeichnen, sondern vor dem Arbeitsgericht auf Scheinselbständigkeit zu klagen. Stefano Lombardo entschied sich dagegen: "Ich brauchte das Geld und habe unterschrieben."

Eine Alternative zu Lieferando

Als klar war, dass bei Deliveroo Schluss ist, tat sich Stefano mit anderen Kurierfahrern aus Berlin zusammen, sie stellten ihren eigenen Lieferdienst auf die Beine: Kolyma 2. Der Betrieb ist ein Kollektiv und versteht sich als Gegenentwurf zu Lieferando und Co. Die Hierarchien sollen flach, die Arbeitsbedingungen fair sein, so der Anspruch der Macher. Kunden können die Fahrer direkt über eine Telefonnummer kontaktieren, die auf der Website des Kollektivs steht.

Für den Anfang beschränkten sich die Fahrer zunächst auf ein paar Restaurants in Kreuzberg. Im Com A, einem vietnamesischen Restaurant am Heinrichplatz, rannten sie mit ihrer Idee offene Türen ein. "Wir wollen nicht mit großen Unternehmen wie Lieferando zusammenarbeiten, die über 20 Prozent unseres Umsatzes für Lieferungen kassieren", erzählt  Jamal Habibi. "Außerdem kannten wir Stefano und wollten ihm dabei helfen, etwas Eigenes aufzubauen."

Sieben Tage die Woche auf Abruf

Das Kollektiv wuchs zwischenzeitlich auf 15 Fahrer an. Der 20-jährige Johnny Stillmark etwa fährt neben seinem Studium für Kolyma. Er schätzt die Arbeit im Kollektiv: Hier könne er viel selbstbestimmter arbeiten als bei der Konkurrenz, sagt er. 

Die Fahrer verbreiteten ihr Angebot über die sozialen Medien und weiteten ihren Lieferservice auf Restaurants in Friedrichshain und Schöneberg aus. Damit wuchs allerdings auch der Organisationsaufwand. Das Kollektiv war stets auf Abruf. Jederzeit konnte eine Bestellung hereinkommen, die innerhalb von 30, 40 Minuten zugestellt werden sollte. "Es lief ziemlich gut, bis die Aufträge mehr wurden und Kolyma nicht mehr hinterherkam", sagt Jamal Habibi vom Restaurant Com A.

Service vorübergehend eingestellt

Nach zweieinhalb Monaten wuchs den Fahrern die Arbeit über den Kopf. "Wenn in der Stunde drei, vier Bestellungen eingingen, brach bei uns schon das Chaos aus", sagt Stefano Lombardo. Der Fehler sei gewesen, dass ihr Kollektiv versucht habe, so schnell und günstig wie Deliveroo zu sein, merkt er selbstkritisch an.

Am Ende blieb dann kaum etwas für die Fahrer übrig. Deshalb hat das Kollektiv seine Arbeit vorübergehend auf Eis gelegt.

Neues Jahr, neues Glück

Zu Beginn des neuen Jahres will Kolyma einen zweiten Anlauf nehmen - dieses Mal mit mehr Vorlauf und Planung als nach dem Ad-hoc-Start im Sommer. Damit sich das Geschäft rechnet, setzen Johnny Stillmark und die anderen Fahrer auf ein verändertes Konzept. "Wir wollen mit Cateringlieferungen starten, weil das einfacher zu planen ist", sagt der junge Mann. Von Montag bis Freitag soll der Schwerpunkt mittags auf Sammelbestellungen von Büros liegen. Abends und an den Wochenenden hat das Kollektiv weitere private Besteller im Blick.

Stefano Lombardo geht davon aus, dass bei den Bestellenden eine Offenheit für alternative Konzepte gibt, wie sie Kolyma verfolgt: "Ich glaube, viele Kunden sind bereit, mehr für einen ökologischen, lokalen Lieferdienst zu bezahlen, der von den Fahrern selbst organisiert wird."

Beitrag von Franziska Ritter

7 Kommentare

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  1. 7.

    Ja! Das ist sicher einen sehr guten Rat. Das fehlt uns tatsächlich: Wie wäre es mit Ihnen, Herrn Dad?

  2. 6.

    Danke für den Lob! Wir sind bereit in Kontakt mit der NGG und Orry Mittenmayer von NGG und LIeferAmLimit ist sogar in unserem internen Chat. Leider ist die NGG eine Gewerkshchaft und keine Business Beratungsagentur. Wenn sie das wären und das könnten, würden sie selber mit den Fahrern, die bei der NGG/LieferAmLimit sind, eine ähnliche Initiative wie unsere starten, zumal sie verfügen über viel größere finanzielle Mitteln als wir.

  3. 5.

    Nie von Coopcycle was gehört? www.coopycle.org bzw. kolyma2.ccopcycle.org

  4. 4.

    Erstmal ein großes Lob an euch! Ich finde es toll, dass ihr so viel Mut habt! Aber bitte geht nochmal zur NGG und lasst euch dort Fachkundig beraten, sonst geht es wieder nach hinten los. Trotzdem viel Glück bei eurem Vorhaben.

  5. 3.

    Auf Preisebene mit den Unternehmen zu konkurrieren, die ihre Fahrer gnadenlos ausbeuten, scheint mir kein Erfolgsrezept zu sein.

  6. 2.

    Irgendwie zu naiv und weltfremd, vielleicht sollten sie sich trotzdem jemanden ins Boot holen, der von Organisation, Planung und Management was versteht. Sonst wird es auch im 2. Anlauf nicht besser. Trotzdem, viel Glück.

  7. 1.

    Man kann das Rad auch neu erfinden..
    Die Organisation übernimmt bei anderen Diensten eben die Software und ohne so eine Software wird kein Lieferdienst konkurrenzfähig sein. So wird das Unternehmen nur ein Nischendasein fristen,das von großzügigen Kunden abhängig ist.

    Eine andere Möglichkeit wäre sich gewerkschaftlich zu organisieren..
    Trotzdem viel Erfolg!

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