Erster Einsatz im neuen Jahr - Das ist von den neuen S-Bahn-Zügen zu erwarten
Erstmals seit Jahrzehnten rollen in der Neujahrsnacht wieder neuen S-Bahn-Züge durch Berlin. Das Versprechen nach acht Jahren Planung und Bau: kein Schwitzen im Sommer, kein Ausfall bei der ersten Schneeflocke. Johannes Frewel erklärt, was da dran ist.
Am 1.1.2021 um 00:01 Uhr soll der erste Zug der Baureihe 483/484 von Schöneweide aus seinen Dienst auf der Linie der S47 zwischen Spindlersfeld und Hermannstraße starten. Zunächst gibt es nur zehn Vorserienfahrzeuge auf dieser Strecke, die S46 zwischen Königs Wusterhausen und Westend soll im Sommer 2022 als zweite Linie folgen. Der Rest der insgesamt 106 bestellten Züge soll erst bis Ende 2023 kommen und dann auch auf der Ringbahn S41/42 sowie der S8 zwischen Zeuthen und Birkenwerder fahren. Die Serienproduktion hat bereits begonnen, ausgemustert werden dafür die alten DDR-S-Bahnen.
Wie gut sind die neuen S-Bahnen für Schnee und Eis im Winter gerüstet?
Das Zauberwort heißt Redundanz: Die Motoren der Wagen sind etwa 20 Prozent stärker als eigentlich nötig. Macht ein Motor schlapp, übernehmen die übrigen Motoren des Zugs, ohne dass die Beschleunigung arg leiden soll. Auch die Bauteile für die Stromversorgung sind doppelt ausgelegt. So können S-Bahnen bei Fehlern bis zur nächsten planmäßigen Instandsetzung weiter eingesetzt werden, ohne dass es Fahrgästen auffällt.
Zentrales Problem bei älteren Zügen war die Leistungselektronik, die den Motoren den jeweils benötigten Fahrstrom liefert. Durch die Schlitze der Luftkühlung drangen etwa Schneeflocken ein, die an den warmen Bauteilen schmolzen und sie unter Wasser setzten. Bei den neuen S-Bahnen werden die Unterboden-Container der Leistungselektronik weiterhin luftgekühlt - allerdings mit kalter Luft in separaten Kanälen. Die eigentliche Elektronik ist davon abgekapselt. Schneeflocken sollen die Bahn also nicht mehr lahmlegen können. Wie das funktioniert, dafür stand die Metro im norwegischen Oslo Modell.
Wie komfortabel sind die Züge?
Was sofort auffällt: die neuen S-Bahnen fahren sehr viel leiser, ruhiger und sanfter als ihre Vorgänger. Aber Achtung: die Züge beschleunigen und bremsen auch besser. Deshalb empfiehlt sich der beherzte Griff zu den Haltestangen. Es gibt eine Klimaanlage, die im Sommer warme Luft abkühlt. Das Türsignal beim Öffnen und Schließen entspricht neuen EU-Normen und unterscheidet sich deutlich von dem älterer S-Bahnen. Kurz gesagt: Es ist nerviger und penetranter. Beim Öffnen wird ein breiter Lichtbalken über der Tür grün, beim Schließen rot. Auch neu: die Türen schließen nicht mehr alle gleichzeitig, sondern einzeln jeweils wenige Sekunden nach dem letzten Aus- oder Einsteigen.
Wohin die S-Bahn fährt, wird innen wie außen auf Bildschirmen an oberen Seitenscheiben auch dann angezeigt, wenn die Bahn steht. In den neuen S-Bahnen gibt es deutlich mehr Platz unter den Sitzen. Die Sitze sind nur noch an der Seitenwand montiert, Gepäck kann also auch seitlich unter den Sitz geschoben werden. Zudem gibt es mehr Platz etwa für Rollstühle, Kinderwagen oder Fahrräder.
Fahren die neuen S-Bahnen autonom?
Nein, auch wenn die neuen S-Bahnen der Baureihe 483/484 vollständig digitalisiert und vernetzt sind. Zahlreiche Sensoren messen und liefern per Computer laufend Betriebswerte der technischen Komponenten. Diese werden auf Displays beim Zugführer angezeigt und als Diagnosewerte zeitgleich per Datenfunk zu einer Leitstelle im S-Bahn-Instandhaltungswerk Schöneweide gesendet. Noch während die S-Bahn unterwegs ist, können dem Betriebswerk Grünau Aufträge für Instandhaltungsarbeiten erteilt werden, bevor ein Bauteil seine Verschleißgrenze erreicht und vielleicht ausfällt.
Doch den kleinen Hebel, mit dem gefahren und gebremst wird, bedient wie vor hundert Jahren noch immer ein Mensch. Auch in den neuen S-Bahnen sitzen vorn also Lokführerinnen und Lokführer, die den Zug allein steuern.
S-Bahn und Smartphone - wie gut passt das zusammen?
WLAN oder Mobilfunk-Repeater gibt es in den Zügen nicht, sie wurden vom Verkehrsverbund VBB nicht bestellt. Smartphones empfangen in der S-Bahn also nur das Netz, das es auch außerhalb des Wagens gibt. In der Regel ist das 4G/LTE, manchmal schon 5G.
Wird der Akku des Handys unterwegs leer: Pech gehabt. Aufladen kann man in der neuen S-Bahn weder Smartphones noch etwa E-Bikes.
Woher kommen die neuen Züge?
Gebaut werden sie in Berlin. Die Wagen kommen von Stadler in Pankow, die Elektrik von Siemens. Die neuen Berliner S-Bahnen werden in zwei unterschiedlichen Baureihen geliefert. Die Baureihe 483 der Deutschen Bahn hat je zwei Wagen. Bestellt wurden 21 dieser kurzen Züge. Die Baureihe 484 hat hingegen jeweils vier Wagen. Davon hat die Deutsche-Bahn-Tochter S-Bahn Berlin 85 Züge bestellt. Beide Baureihen sehen - bis auf die unterschiedliche Länge - gleich aus und sollen Zug für Zug bis 2023 geliefert werden. Die Kosten werden mit 900 Millionen Euro veranschlagt. Die neuen Züge lösen eine Baureihe der DDR-S-Bahn ab, die wegen ihrer ehemals knallroten Lackierung im Osten Berlins den Spitznamen Coladose erhielt. Offiziell trug die Baureihe bei der Deutschen Reichsbahn die Bezeichnung 270, die Deutsche Bahn taufte sie später nach der Übernahme in Baureihe 485 um.
Was passiert mit den alten DDR-S-Bahnen?
Die DDR-S-Bahnen wurden Ende der 70er Jahre vom VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke "Hans Beimler" im brandenburgischen Hennigsdorf entwickelt. Das Werk ging nach der Wende unter anderem durch die Hände von AEG, wurde von der früheren Daimler-Benz-Bahnsparte Adtranz übernommen und gehört heute dem kanadischen Verkehrskonzern Bombardier. Die Züge wurden Ende der 1970er Jahre konzipiert und lösten mit der Nullserie ab 1988 schrittweise die ersten elektrischen S-Bahnen der Baujahre ab 1927 ab. Die S-Bahn-Serie 270/585 war der erste Nachkriegs-Neubau, bestand weitgehend aus Aluminium und brauchte deutlich weniger Strom als die sogenannten Altbauten, die oft schon zu den Olympischen Spielen 1936 unterwegs waren.
Die heute rund 30 Jahre alten S-Bahnen aus Hennigsdorf wurden speziell auf das Berliner S-Bahn-Netz zugeschnitten, dessen Standards vor gut 100 Jahren entwickelt wurden. Diese S-Bahnen können nur in Berlin eingesetzt werden. Sie sollen nach 2023 verschrottet werden, wenn Stadler und Siemens bis dahin alle Züge der neuen Baureihe 483/484 geliefert haben. Ein Zug aus Hennigsdorf dürfte seinen letzten Halt im S-Bahn-Museum Erkner finden - direkt neben den Vorgängern.
Wo werden die neuen S-Bahnen gewartet?
Ab Januar sind sie zunächst im Probebetrieb, es gibt drei Jahre Garantie. Technische Defekte werden in dieser Zeit durch das Herstellerkonsortium Stadler und Siemens behoben. Die regelmäßigen Inspektionen nimmt die S-Bahn hingegen selbst im Betriebswerk Grünau vor. Dort wird bisher auch der DDR-S-Bahn-Typ gewartet. Die erste Instandhaltung, also eine große Durchsicht, erfolgt nach 40.000 Kilometern. Die alten DDR-S-Bahnen müssen meist wöchentlich ins Werk.
Schwachstelle Bremsen - was ist besser geworden?
Ältere S-Bahnen haben eine klassische Radbremse und zudem eine Wirbelstrombremse. Sie erzeugt beim Bremsen Strom und speist diesen wieder in das Netz ein. Kann das Bahnstromnetz gerade keinen Strom aufnehmen, wird der Strom in großen elektrischen Bremswiderständen am Unterboden in Wärme umgewandelt, Bremsenergie also regelrecht verheizt. Das ist auch bei den neuen Modellen so, doch reichen beiden Bremsen etwa bei einer Gefahrensituation oder Glatteis nicht, bremsen diese zusätzlich mit Magnetschienenbremsen. Deren Bremsfläche schwebt nur wenige Zentimeter über der Schiene. Im Fall des Falles wird sie magnetisch aufs Gleis gezogen und sorgt für zusätzliche Bremskraft, bis der Zug steht.