Streik der Pflegekräfte bei Charité und Vivantes - Wenn pure Verzweiflung auf unlösbaren Mangel trifft

Pflegekräfte am Limit fordern vehement Entlastung, aber Klinikleitungen finden keine Fachkräfte: Der Streik bei Vivantes und Charité wirft ein Schlaglicht auf ein akutes Problem, das nicht schnell zu beheben ist. Von Sebastian Schöbel
Um sich den Personalmangel in der Krankenhauspflege einmal plastisch vor Augen zu führen, reicht ein Blick in die einschlägigen Jobportale im Netz. Allein in der vergangenen Woche hat der landeseigene Vivantes-Klinikkonzern in Berlin mehr als ein Dutzend Stellen für Pflegefachkräfte ausgeschrieben. In der Unfallchirurgie, Anästhesie, Intensivmedizin, Pneumologie und etlichen weiteren Bereichen. Einstiegsgehalt, je nach Qualifikation, 2.700 bis 3.000 Euro brutto.
"Die rennen uns trotzdem nicht die Bude ein", sagt Johannes Danckert, Geschäftsführer Klinikmanagement und kommissarischer Geschäftsführer von Vivantes. "Attraktiv ist ein Arbeitsplatz nicht nur durch die Bezahlung, sondern auch durch das Umfeld", fügt er resigniert hinzu. "Und unsere Kliniken sind in weiten Teilen leider sehr sanierungsbedürftig." Für eine hübsche Privatklinik mit weniger Patienten und angenehmeren Bedingungen würden Pflegekräfte schon mal auf Geld verzichten. Danckert sagt das ohne Verbitterung.
Das Geld ist nicht das Problem
Am Geld jedenfalls liege es nicht, ist sich der Klinikmanager sicher. Vivantes bezahlt seine Pflegekräfte bereits nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD). "Wir können uns nicht vorwerfen lassen, nicht jede verfügbare Pflegekraft eingestellt zu haben", beteuert Dankert. Aber der Markt sei einfach leergefegt.
Die angedrohten Streiks an den landeseigenen Krankenhäusern in Berlin kommende Woche betreffen zwei sehr unterschiedliche Bereiche: die Pflege und die ausgelagerten Jobs in den Tochterunternehmen, wo zum Beispiel Reinigungskräfte und Gastronomiepersonal arbeiten. Letztere kämpfen vor allem um mehr Lohn, weil sie noch immer weniger verdienen als ihre Kolleg:innen, die nach TVöD bezahlt werden. Den Pflegekräften geht es hingegen nicht um Geld, sondern um Erleichterungen in ihrem stressgeplagtem Arbeitsalltag. Weswegen sie auch einen Entlastungstarifvertrag fordern.
"Das ist sehr gefährlich, so möchten wir nicht mehr arbeiten."
Denn die Probleme bei der vergeblichen Suche nach Fachkräften müssen vor allem sie ausbaden. Nicole Strosche zum Beispiel, seit 17 Jahren Krankenschwester, arbeitet auf der kardiologischen Abteilung des Charité Campus Benjamin Franklin. 16 Stellen seien in ihrer Abteilung dauerhaft unbesetzt. "Unsere Patientenkapazität wurde aufgrund von dauerndem Personalmangel bereits auf 50 reduziert", sagt Voigt. Oft werde nicht eingearbeitetes Personal als Verstärkung in die Abteilung geschickt.
Der Alltag sehe dann zum Teil dramatisch aus. "Stellen Sie sich vor, zu uns kommt ein junger Mann, sportlich aktiv, Familienvater. Der hat jetzt einen Herzinfarkt", sagt Storsche. Die erfahrenen Stammkräfte seien in solchen Situationen dann oft im Spätdienst allein mit unerfahrenen Leasingkräften. Der Druck sei enorm. "Weil sie nicht nur die Verantwortung für diesen einen Familienvater tragen, sondern eben auch für die 49 anderen, meist schwerkranken Patienten." Regelmäßig müssten Patienten reanimiert werden, sagt Strosche - und das mit unerfahrenen Kolleg:innen. "Das wünsche ich niemandem, das ist echt unvorstellbar."
Ihre Kollegin Ludmilla ist seit 30 Jahren Krankenschwester, seit zwei Jahren arbeitet sie im Virchow-Klinikum. Auf ihrer Abteilung, der Stroke Unit, liegen zum Beispiel akute Schlaganfälle, Parkinson-Patienten, MS-Patienten. Besonders pflegeintensive Fälle also. "Kann jeden treffen", sagt Ludmilla. "Einen Tag bist du mobil, und am nächsten Tag bist du schon im Krankenhaus." Auf eine Schwester kommen sechs solcher Patienten, sagt sie. Doppelt so viel, wie eigentlich vorgesehen. In der Nacht müsse eine Pflegekraft sogar bis zu 20 Patient:innen betreuen. "Das ist sehr gefährlich, so möchten wir nicht mehr arbeiten."
Keine Entlastung in Sicht
Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger wirft beiden Klinikkonzernen vor, kaum bis gar nicht auf die Forderungen der Pflegekräfte einzugehen. Die Charité habe lediglich vorgeschlagen, mit smarter Technologie die Effizienz des Personals durch gute Steuerung zu steigern. "Das ist nicht das, was wir uns unter Entlastung vorstellen", so Jäger, "insofern war der Ärger groß". Vivantes habe bislang noch gar kein Angebot für einen Entlastungstarifvertrag gemacht, sagt sie.
Wer bei Vivantes nachfragt, lernt allerdings die andere Seite dieses komplizierten Streits kennen und hört Argumente, die nicht weniger einleuchtend klingen. Zum Teil werden sie sogar ähnlich verzweifelt vorgebracht wie die der Pflegekräfte. Um den von Verdi vorgeschlagenen Entlastungstarifvertrag mit verbindlichen Personalschlüsseln und garantierten Ausgleichstagen umzusetzen, müsse man nämlich ein regelrechtes Wunder vollbringen, sagt Dorothea Schmidt, Geschäftsführerin Personalmanagement bei Vivantes. 700 weitere Pflegekräfte seien nötig, rechnet sie vor. Die aber gebe es nicht.
Pflegekräften helfen, Ärzte entlassen
Die Konsequenz: Der angestrebte Personalschlüssel könne nicht erreicht werden, die eingesetzten Pflegekräfte müssten also mit Freizeit für die Überbelastung entschädigt werden. Wodurch allerdings noch tiefere Löcher in die Dienstpläne gerissen würden. Vivantes müsse also die Kapazitäten bei der Patientenversorgung reduzieren, so Schmidt. "Wir sind auf fast 800 Betten gekommen, die wir wegnehmen müssten, damit wir den Tarifvertrag Entlastung sicherstellen können." Der Konzern würde dadurch 45 Millionen Euro Verlust machen, sagt sie.
Und noch schlimmer: Weil weniger Betten belegt werden könnten, müsste in anderen Bereichen, und zwar auch bei den Ärzt:innen, Personal abgebaut werden. Die Rede ist von bis zu 1.300 Vollzeitkräften.
Gericht bremst Verdi aus
Was Charité, Vivantes und Verdi vereint, ist die pure Verzweiflung - und die Wut aufeinander. In den bisherigen Verhandlungen war keine Seite bereit, von ihrer Position signifikant abzuweichen. Per Gerichtsurteil wurde am Freitag der Streik bei den Vivantes-Tochterunternehmen untersagt. Weil keine Regelung zur Aufrechterhaltung eines Notdienstes vereinbart wurde, sei das Wohl von Patient:innen in Gefahr, so die Richter. Deswegen dürfe zum Beispiel in der Speiseversorgung, Wäscheabteilung oder Sterilisation nicht gestreikt werden ohne gesicherten Notdienst.
Die Pflegekräfte hingegen dürfen die Arbeit niederlegen, in der Charité genauso wie bei Vivantes. Dass sie dies tun werden, daran besteht kaum ein Zweifel.
Sendung: Inforadio, 21.08.2021, 9:45 Uhr