Verdi bestreikt ab Montag Charité und Vivantes - Eskalation nach Plan
100 Tage hatte Verdi den beiden landeseigenen Klinken Charité und Vivantes gegeben. Die Fronten sind inzwischen allerdings härter als zuvor. Nicht einmal auf eine Notdienstvereinbarung konnten sich die Tarifparteien bisher einigen. Von Christoph Reinhardt
Am 12. Mai hatte Verdi-Verhandlungsführerin Meike Jäger den Chefs von Charité und Vivantes ein Ultimatum gestellt: 100 Tage für einen Tarifvertrag, sonst wird gestreikt. Erst am Freitag läuft die Frist ab, aber ernsthafte Angebote erwartet Jäger bis dahin nicht mehr: "Momentan bleibt uns gar nichts anderes übrig als zu streiken." Die Arbeitgeberseite sei weiterhin nicht bereit, die Forderungen der Beschäftigten zu erfüllen.
Einerseits will die Gewerkschaft einen so genannten Entlastungs-Tarifvertrag abschließen. Die Idee: Die Pflegekräfte sollen zu hohe Belastungen, wie sie zum Beispiel durch die Unterbesetzung von Schichten entstehen, verbindlich ausgleichen können. Andererseits soll die ungleiche Bezahlung für gleiche Leistungen beendet werden, indem der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) auch in den Tochterunternehmen angewendet wird.
"Für Vivantes nicht tragbar"
Beides lehnt Vivantes unmissverständlich ab. Verhandlungen über einen Entlastungs-Tarifvertrag schließt das landeseigene Unternehmen schon aus rechtlichen Gründen kategorisch aus. Aber auch in der Sache kommt diese Option nicht für Vivantes infrage. Die Vorgaben eines solchen Tarifvertrags wären aufgrund des bundesweiten Fachkräftemangels nur umsetzbar, wenn Vivantes weniger Patienten behandeln würde. "Diese Einschränkung der Versorgungskapazitäten hätte bei Vivantes einen Abbau von 360 bis 750 Betten zur Folge", rechnet Vivantes in einer Stellungnahme vor und bringt Kündigungen von Ärzten und anderem nichtpflegendem Personal und ins Spiel. "Im Ergebnis würde daraus auch ein Abbau von 870 bis 1.300 Stellen und ein zusätzliches Defizit in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro resultieren."
Ein Schreckgespenst, wiegelt die Gewerkschaft ab und verweist auf das Vorbild der Uniklinik Mainz. Dort hat die Gewerkschaft 2019 einen vergleichbaren Tarifvertrag erkämpft. Das Modell berücksichtigt Umstellungsprobleme mit einer Stufenlösung, sagt der Mainzer Krankenpfleger Sebastian Tensing. Zu einem Verlust an Patienten sei es dort nicht gekommen - stattdessen sei seine Klink für Pflegekräfte attraktiver und habe neues Personal gewinnen können.
Erwartungen nach Corona enttäuscht
Mehr Kolleginnen und Kollegen, das ist für Intensivpflegerin Anja Voigt der entscheidende Faktor. "Supertoll" seien die Bedingungen vor 12 Jahren noch gewesen, als sie im Vivantes-Klinikum Neukölln angefangen habe. Zwei Patienten hatte jede Pflegekraft zu versorgen, sagt sie, heute seien es drei bis vier. Die Streikbereitschaft in ihrem Bereich sei sehr hoch. "Die Coronapandemie hat uns arg mitgespielt, wir waren sehr belastet und haben viel geleistet." Man sei über sich hinausgegangen und habe erwartet, dass nun auch etwas für sie passiere. Wenn nicht auf dem Verhandlungsweg, dann mit den Mitteln des Arbeitskampfes.
Jenny Lange arbeitet ebenfalls in einem Vivantes-Klinikum – sie ist aber nicht direkt angestellt bei der Muttergesellschaft, sondern zum niedrigeren Tarif einer Tochterfirma. Als Mitarbeiterin im Bistro des Klinikums Spandau fühlt sie sich als Mensch zweiter Klasse. "Es darf einfach nicht sein, dass ich in meinem Bereich Kollegen habe, die 800 Euro im Monat mehr bekommen für die gleiche harte Arbeit wie ich - das ist einfach unfair." Aber auch die Angleichung auf das Niveau des öffentlichen Dienstes kann sich die Vivantes-Geschäftsleitung nicht vorstellen: "Mit einer Umsetzung kämen weitere Kosten in Höhe von 35 Millionen Euro pro Jahr dazu. In der Summe würde Vivantes dadurch dauerhaft zu einem Subventionsbetrieb, dessen enorme Defizite vom Land Berlin zu tragen wären."
Streit um Notdienstvereinbarung
Wie verhärtet die Fronten sind, zeigt sich im Tauziehen um eine Notdienstvereinbarung, die bei Streiks in Krankenhäusern üblicherweise die medizinisch erforderliche Versorgung von Patienten gewährleistet. Jahrelang waren schriftliche Vereinbarungen gelebte Praxis, in diesem Jahr gibt es bisher keine Einigung. Streitpunkt: Die Gewerkschaften wollen zwölf komplette Teams von Vivantes-Stationen und sieben weitere in der Charité zum Streik aufrufen.
Die Patienten müssten auf anderen Stationen versorgt werden. Vivantes fordert dagegen eine durchgängige Besetzung aller Stationen auf dem Niveau von Wochenendschichten und hält einen schriftliche Notdienstvereinbarung für erforderlich. "Bei einem Streik ohne entsprechende Vereinbarung wären die Sicherheit und das Wohl von Patient:innen und Bewohner:innen von Seniorenheimen gefährdet." Das weist die Gewerkschaft zurück - selbstverständlich werde jederzeit genügend Personal für medizinisch notwendige Maßnahmen zur Verfügung stehe, versicherte Verdi-Verhandlungsführer Tim Graumann. Auch ohne schriftliche Vereinbarung werde man von Montag bis Mittwoch streiken, das Patientenwohl sei nicht in Gefahr.
Sendung: Inforadio, 17.08.2021, 15:46 Uhr