Pflegenotstand - Warum so viele Berliner Pflege-Azubis ihre Ausbildung abbrechen

In diesem Jahr haben überdurchschnittlich viele Pflege-Azubis in Berlin ihre Ausbildung hingeschmissen. Ein Grund ist offenbar das Homeschooling wegen Corona. Doch es ist nicht der einzige. Von Thomas Rautenberg
Nina Maibom ist Auszubildende im zweiten Semester am Berufsbildungszentrum der DRK- Schwesternschaft Berlin. Die 28-Jährige hat ihre Probezeitprüfung geschafft. Sie kann und wird ihre Ausbildung zur Pflegefachkraft fortsetzen.
Elf ihrer ursprünglich 27 Mitschülerinnen und Mitschüler, die mit ihr im Frühjahr angefangen haben, sind nicht mehr dabei. Sie haben aufgegeben. Über 40 Prozent weg – so richtig überrascht sei sie nicht, sagt Nina Maibom: "Der Schichtdienst und dann die Arbeit auch am Wochenende – mir war klar, dass das so kommen würde. Mir war auch klar, dass das dazu gehört. Aber trotzdem muss man sich erst finden und auch lernen, bei Freunden abzusagen", räumt die 28-jährige Kreuzbergerin ein.
Deutlicher Anstieg bei den Abbrecherzahlen
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben im vergangenen Jahr von 2.118 Pflege-Azubis an den Berliner Pflege-Schule 213 Jugendliche aufgegeben. Das sind rund 10 Prozent. In diesem Jahr liegt die Abbrecherquote deutlich höher. Bei der DRK-Schwesternschaft sind knapp 40 Prozent im ersten Semester gegangen. Bei der Wannsee-Schule für Pflegeberufe, die die Ausbildung für 15 medizinische Einrichtungen übernimmt, hat fast jeder dritte Azubi hingeschmissen. Beim Ausbildungscampus von Vivantes und Charité wollte man keine Zahlen nennen.
Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates und Leiterin der Pflegeausbildung beim Berliner Bildungscampus für Pflegeberufe, Christine Vogler, macht vor allem die falsche Vorstellung vom Beruf für das Scheitern vieler, junger Leute verantwortlich. "Pflegen könne jeder – das ist der größte Irrtum, der sich immer noch hält. Und damit werden jungen Menschen in den Beruf gebracht, die von vornherein scheitern müssen", sagt Vogler. Und weiter: "Die dreijährige Ausbildung zur Pflegefachkraft ist hoch anspruchsvoll und fordernd."
"Lernen braucht Bindung"
Doch ist damit allein der sprunghafte Anstieg der Abbrecherzahlen zu erklären? Nein, sagt Gudrun Fiehöfer, Schulleiterin des Berufsbildungszentrums bei der DRK-Schwesternschaft. Für sie ist die Situation vielmehr eine unmittelbare Folge des Homeschoolings wegen Corona. "Lernen braucht Bindung", sagt die Schulleiterin. "Bindung entsteht nicht am Computer, Bindung entsteht nur im realen Leben, und ein Klassenverband hilft ganz doll. Und wenn das nicht da ist, dann fehlt ein wichtiger Faktor."
Homeschooling galt für alle Azubis
Das Lernen in der Gemeinschaft fehlte auch bei allen anderen Berufsgruppen. Dennoch hat die IHK Berlin in ihren Brachen Industrie, Handel und Gewerbe einen umgekehrten Trend festgestellt: Dort ist die Abbrecherquote unter den Azubis in der Corona-Krise sogar gesunken – von über 3.200 im Jahr 2019 auf etwa 2.700 ein Jahr später und damit mitten in der Pandemie. "Die Krise schweißt offenbar zusammen", sagt IHK-Sprecherin Claudia Engfeld. "Die Azubis suchen Sicherheit und halten deshalb auch an ihren Ausbildungsverträgen fest."
Was läuft also anders als in der Pflegeausbildung?
Häufig gehen auch die Besten
Eine Besonderheit in der Pflegeausbildung ist zweifellos, dass viele Jugendliche, die eigentlich Medizin studieren wollen, ihre Wartezeit auf den Studienplatz mit einer Ausbildung abkürzen wollen. Die Ausbildungseinrichtungeninvestieren viel Zeit und Geld in die jungen Leute. Umso bitterer ist es natürlich, wenn ausgerechnet die besten Auszubildenden später einfach gehen.
Neues Pflegeberufsgesetz schwer umzusetzen
Seit dem vergangenen Jahr gilt das neue Pflegeberufsgesetz: Eine Pflegefachkraft muss danach eine dreijährige generalisierte Ausbildung absolvieren. Soll heißen: Es wird in der Ausbildung nicht mehr nach den Zweigen Kinderkrankenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege sowie Altenpflege unterschieden. Alle Azubis müssen alles lernen und die Spezialisierung erfolgt erst im dritten Ausbildungsjahr durch den verstärkten Praxiseinsatz.
Die generalisierte Ausbildung ist im Grunde eine Vorstufe zum Pflegestudium. Die Ausbildungsbereiche erhalten nach dem Gesetz sehr viel Geld, um die Anleitung der Azubis auf den jeweiligen Praxisstationen zu sichern. Doch das Geld allein ist es nicht, sagt Schwesternschülerin Nina Maibom aus eigener Erfahrung: "Zehn Prozent meiner Arbeitszeit auf meiner Station hätte ich angeleitet werden müssen. Das war das nicht möglich. Einfach, weil es gar nicht genug Praxisanleiterinnen gibt. Die arbeiten nicht immer in Vollzeit. Dann musste ich vier Examen auf der Station machen. Wie sollen sich die Anleiterinnen, die ja auch einen Job haben, aufteilen? Das geht nur auf dem Papier!´"
Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander
Christine Vogler, die Vorsitzende der Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, bestätigte diese Erfahrung im rbb-Inforadio: "Das Pflegeberufsgesetz, das vieles verbessern soll, kommt leider zur Unzeit. Auf den Stationen sind viel zu wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Leute schaffen schon ihre normale Arbeit nicht", sagt Vogler. "Und dann kommen noch die vielen Auszubildenden, die wir brauchen, um den Mangel zu beheben. Die müssten gut angeleitet werden. Das kann keiner mehr leisten."
Anspruch und Wirklichkeit in der neuen Pflegeausbildung klaffen offenbar weit auseinander. Sie müssen schnell angepasst werden – damit nicht noch mehr Auszubildende vorzeitig ihre Sachen packen und gehen.
Sendung: Inforadio, 05.10.2021, 06:50 Uhr